Lost Girl. Im Schatten der Anderen
kenne. So gut, dass ich die kleinste gedankliche Regung darin ablesen kann.
»Solange Amarra mit ihm geht, darfst du niemand anders haben«, sagt er schließlich. »Nur ihn.«
»Obwohl er ein halber Franzose ist?« Ich versuche flapsig zu klingen, was bleibt mir anderes übrig?
»Tja, das ist allerdings ein schwerer Makel.«
»Glaubst du, die würden dasselbe auch über dich sagen?«
»Die Franzosen? Die machen sich doch ständig darüber lustig, dass wir Engländer so zugeknöpft sind.«
Ich zähle die Regentropfen an der Scheibe.
»Was stört dich an ihm so sehr?«, platze ich heraus, ehe ich es mir anders überlegen kann.
Sean ist ganz still. Wir stehen so dicht nebeneinander, dass ich seinen Atem in meinen Haaren spüre. Ein elektrisierendes Gefühl, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagt. Ich will wegsehen, aber ich tue es nicht. Wie gebannt blicke ich zu ihm auf.
»Weiß nicht«, sagt er schließlich vorsichtig.
Ich schlucke und spüre einen Kloß im Hals. Ich sollte es dabei belassen, aber meine aufsässige Zunge redet einfach weiter.
Ohne dass ich es verhindern kann, höre ich mich schon die nächsten Worte sagen.
»Doch, ich glaube, du weißt es.«
»Eva«, sagt er kaum hörbar, »du weißt, was passieren kann. Echos dürfen sich nicht in den Falschen verlieben. Womöglich bezahlst du mit dem Leben dafür. So will es das Gesetz der Meisterei. Und das macht mir jeden Tag wahnsinnige Angst.«
Mein Mund ist ganz trocken. Gerade als ich etwas antworten will, wird geräuschvoll die Haustür aufgeschlossen.
Wir fahren auseinander, als hätten wir uns gegenseitig verbrannt. Mina Ma eilt geschäftig herein, die Arme voller Tüten. Sean geht, um ihr zu helfen. Seine Bewegungen sind steif und angespannt. Ich folge ihm. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und ich traue mich nicht zu sprechen.
Ich stelle mir zwei Hände vor, die nach mir greifen, mich an den Haaren fassen. Sie ziehen an einer Strähne, ziehen immer weiter und weiter, weil die Strähne in Wirklichkeit ein Faden ist, der meinen Kopf, meinen Körper und meine Füße auftrennt, bis nichts mehr von mir übrig ist, bis ich mich aufgelöst habe und in die Einzelteile zerfalle, aus denen ich gemacht wurde. Das ist der Preis, den man zahlt, wenn man die Gesetze der Meister missachtet.
Beim Abendessen ist Seans Blick leer. Ich sehe Mina Ma an, meine treuste Freundin, die mich länger als alle anderen liebt und beschützt, strecke den Arm über den Tisch und berühre ihre Hand. Sie lächelt ein wenig und streicht mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Die letzte Zeit war so anstrengend. Ich glaube, wir brechen schon jetzt zusammen, ganz ohne Zutun der Meister.
In dieser Nacht schlafe ich unruhig. Im Traum treibe ich durch Städte, vorbei an Kirchen und spitzen Türmen, Tempeln und Staubwolken. Ich träume von alten Göttern, dem Zerstörer Shiva, dem fröhlichen blauen Krishna, der die Hand hebt, als wollte er mich warnen, und von Sternen, die sich in Engel verwandeln. Und von Städten, immer wieder Städten.
Ich folge einer menschenleeren, gepflasterten Straße zu einem Uhrenturm. Dunkel und bedrohlich ragt er vor der Sonne auf, die kalt am Himmel steht. Er hat die Farbe des Weines, ein dunkles Rotviolett, fast schon Schwarz. Am Himmel sehe ich Adler, ich höre ihre Schreie. Am oberen Ende der Treppe steht eine Frau in einem seidig schimmernden Gewand, das sich im Wind bauscht. Sie ist älter als Erik. Ihre Haare leuchten noch golden, aber die grauen Augen verraten ihr Alter.
Ich bleibe wenige Stufen unter ihr stehen und blicke sie an. Sie lächelt traurig. »Was ist dein größter Wunsch?«, fragt sie. »Wonach sehnst du dich?«
Ich antworte nicht. Ich kann nicht. Erinnerungen flackern in meinem Gedächtnis auf. Ein grünes Kinderzimmer und ein Mann, der lacht. Er hat eine Stimme wie Donner und Löwengebrüll. Eine zerbrochene Vase, deren Wasser über den Boden fließt. Mein Fuß, den ich an einer Glasscherbe verletzt habe, und meine Tränen, weil ich die Vase umgestoßen habe. Erik, der mich beruhigt, der sagt, es sei nicht schlimm, er werde alles aufräumen. Ein Arzt mit kalten Augen auf der Flucht vor Mina Mas Nudelholz. Ein Junge mit nassen Haaren.
Ich verlasse den Uhrenturm und gehe weiter. Meine nackten Füße kribbeln vor Kälte. Ich gehe schneller, als wäre der Schatten des Uhrenturms ein Fluch, der mich verfolgt, aber der Schatten wächst und ich kann ihm nicht entkommen. Ich biege zu einem Haus ab, drücke die Tür auf und
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