Lost Girl. Im Schatten der Anderen
stürze hinein. Drinnen ist es wärmer. Im Licht, das durch das Fenster fällt, sehe ich Sean am Kamin stehen. Er kehrt mir den Rücken zu.
»Es ist kalt draußen«, sagt er.
»Ja.«
Eine Pause entsteht, Stille füllt den Raum. Langsam dreht Sean sich um.
»Eva«, sagt er.
Ohne zu zögern, gehe ich zu ihm und berühre seine Lippen, die straffe Linie seines Kinns. Er bewegt sich nicht. Ich lege die Hand auf seine Brust und spüre, wie darunter sein Herz klopft. Es ist das schönste Geräusch der Welt.
Er nimmt meinen Arm, beugt sich mit dem Kopf darüber und berührt meine Haut mit den Lippen, so leicht, dass mir der Atem stockt …
… und ich die Augen öffne.
Verwirrt sehe ich mich um. Der Traum ist vorbei, hat sich aufgelöst wie Rauch, und ich bin wach. Hellwach.
Der Mond scheint silbern in mein Zimmer. Ich betrachte die Innenseite meines Arms und berühre die Stelle, an der die Haut kribbelt. Ich atme tief ein und aus, aber das Herzklopfen will nicht nachlassen. Mein Herz rast.
Ich hebe den Blick. Es ist jemand im Zimmer. An der Wand steht Sean und sieht mich an.
»Wie lange stehst du schon da?«
»Ein paar Minuten«, sagt er.
»Warum?«
»Ich weiß nicht«, sagt er unsicher. »Eigentlich um mit dir zu reden, aber dann wollte ich dich nicht wecken.«
Wir sehen uns einen langen Moment stumm an. In Seans Gesicht blitzt etwas auf und verschwindet wieder, nur ganz kurz, aber ich habe es erkannt. Verzweiflung.
»Ich will ihn nicht«, sage ich. »Ich will dich.«
»Das darfst du nicht.«
»Die Gesetze sind mir egal.«
Er lacht leise, aber es klingt merkwürdig. »Das spielt keine Rolle.«
»Warum nicht?«
»Weil sie mir nicht egal sind.«
»Bin ich dir nicht wichtiger als die Gesetze?«
»Nein«, sagt er leise.
Ich starre ihn schweigend an, mit einem Kloß im Hals. Meine Augen brennen. »Nein«, wiederhole ich und schlinge die Arme um die Knie. »Verstehe.«
Er kommt durch das Zimmer auf mich zu, seine Füße streifen leise über den Boden. Ich blicke zu ihm auf. Er berührt mein Gesicht mit dem Daumen. »Lieber sehe ich dich nie mehr, als dass ich zulasse, dass die Meister dich töten«, sagt er. Seine Hand streicht über meinen Nacken und über das Mal und vergräbt sich in meinen Haaren. Er beugt sich über mich und küsst mich auf die Stirn. Am liebsten würde ich die Hand auf seinen Arm legen, ihn festhalten. Er richtet sich auf, aber nur ein wenig. Ich spüre seinen Mund noch auf meiner Stirn. Erst dann, wie unter Mühen, reißt er sich los.
»Du musst ihn wollen«, sagt er. Sein Gesicht liegt im Schatten. »Nicht mich. Er würde dich mehr lieben, als ich es könnte.«
Dann geht er.
Sean hält nichts von Prophezeiungen. Doch in dem Moment, als die Welt um mich zusammenbricht, fällt mir dieser eine Satz von ihm wieder ein: Lieber sehe ich dich nie mehr, als dass ich zulasse, dass die Meister dich töten. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass seine Worte nur deshalb schreckliche Wirklichkeit wurden, weil er sie ausgesprochen hatte.
Ende August habe ich wieder einen Traum und er unterscheidet sich von allen vorangegangenen Träumen. Ich träume wieder von einer Stadt, aber diesmal einer echten, von Bangalore.
Und der Traum ändert alles.
Ich erkenne die Stadt aufgrund von Mina Mas Beschreibungen und Geschichten. Ich habe Fotos gesehen und die Bilder in Amarras Gedanken. Ich erkenne die Eisdiele in der Straße, in der ihr Haus liegt. Das Logo von Baskin-Robbins über dem Fenster ist nicht erleuchtet. Dieses Bild ist der einzige bleibende Eindruck, während alles andere in grellem Licht untergeht und mein Kopf in Flammen steht.
Ich sehe Fragmente, Bruchstücke, die rasch aufeinanderfolgen: helles Scheinwerferlicht, ein Auto, das beschleunigt, vorbeirasende Straßenlaternen, die ich zu zählen versuche, Ray, sein lachendes Gesicht.
Ein Motorrad biegt zu schnell um die Ecke, das Auto schlenkert zur Seite, um ihm auszuweichen. Es rutscht von der Straße. Ich habe Angst, Todesangst. Wir haben Angst. Mein Körper bricht durch die Scheibe.
Ich schreie, strample mit den Beinen und kämpfe gegen das Laken. Alles ging so schnell, ich konnte es nicht aufhalten. Wir konnten nichts tun.
Mina Ma ist da und hält mich, während ich schreie. Ich taste meinen Körper ab, aber da ist kein Blut, kein Auto, keine zerbrochene Scheibe. Ich bin unverletzt, ich lebe.
Mina Ma drückt mich sanft ins Bett und geht Wasser holen. Sobald sie weg ist, erwacht die Unruhe in mir. Ich begreife instinktiv, was
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