Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Matthew und Adrian waren fast noch Kinder und ich auch. Manchmal, wenn ich sie heute sehe, sehe ich immer noch diese Kinder, nicht die Männer, zu denen sie geworden sind.«
»Was stimmt mit den Männern nicht?«
Erik seufzt nur.
»Kann ich Matthew vertrauen?«
Seine Mundwinkel wandern nach oben. »Er wird dich ganz sicher wohlbehalten nach Bangalore bringen. Aber sonst? Ich will es so ausdrücken: Würdest du Zyankali zum Frühstück trinken?«
Ich lächle trübsinnig. »Das heißt vermutlich Nein.«
Wir gehen wieder ins Haus. Die Meister haben mir eine Woche Zeit gegeben, um mein Leben in England hinter mir zu lassen, mich versandfertig zu machen wie ein Paket. Auch die Eltern im fernen Indien haben eine Woche, um mit ihrer Tochter abzuschließen und alles für die Kopie vorzubereiten.
In den nächsten Tagen packe ich meine Sachen. Die Meister haben eine Frau geschickt, die mir unter Narkose einen Sender in den Körper eingepflanzt hat, mit dessen Hilfe man mich orten kann. Das Gerät ist winzig und unauffindbar. Ich weiß nicht, wo es steckt, und niemand will es mir sagen aus Angst, ich könnte es entfernen. Sie würden niemals zulassen, dass ich mich aus ihrem Netz aus Lügen und Überwachung befreie.
Die Sender-Spezialistin geht wieder und ich streiche mir eine Stunde lang mit den Fingern über die Haut, in der Hoffnung, irgendwo eine Beule zu spüren. Nichts. Schließlich gebe ich auf und packe weiter.
Meine Vormunde überreichen mir kleine Geschenke. Abschiedsgeschenke. Von Ophelia bekomme ich ein Schminkset. »Etwas zum Spaßhaben. Davon kann man nie genug haben«, sagt sie. Sean überreicht mir ein Muschelarmband und ein Buch mit dem Titel Britische Romantik . Das klingt so langweilig, dass ich mich wundere, wie er überhaupt darauf kommt, es mir zu schenken. Mina Ma schenkt mir ein wunderschönes und elegantes knielanges schwarzes Kleid. Es unterscheidet sich so himmelweit von allem, was Amarra trägt, dass ich einen Kloß im Hals bekomme.
Erik überreicht mir nur einen Umschlag. »Da steckt ein Schlüssel drin«, sagt er. »Verliere ihn nicht.« Auf meinen verwirrten Blick hin erklärt er: »Er gehört zu einem Schließfach, das wir vor Jahren für dich eingerichtet haben. Da du jetzt über alles verfügen kannst, was Amarra gehört hat, brauchst du es vielleicht gar nicht. Aber wenn doch, wenn du je in Not gerätst, erinnere dich daran. Und ich brauche wohl kaum zu sagen, Eva, dass die Meister davon am besten nichts erfahren.«
Ich breche in Tränen aus.
Ich würde in diesem Moment alles darum geben, bleiben zu können. Mina Ma dagegen freut sich – so unglaublich es auch klingen mag.
Sie kann sich mit dem Gedanken abfinden, mich nie wiederzusehen, weil sie glaubt, dass mir dafür nichts mehr passieren kann. Solange ich brav die Rolle eines ganz gewöhnlichen Mädchens spiele, werden die Jäger mich nicht finden. Und die Meister werden mir nichts tun, solange ich mich an ihre Gesetze halte. Meine Nenneltern wiederum brauchen mich. Mina Ma glaubt fest daran, dass ich mich ab sofort in Sicherheit befinde.
»Du hast dein Leben lang gelernt, Amarra zu sein«, schärft sie mir ein. »Sei jetzt das Mädchen, nachdem sie sich sehnen. Spiele ihnen etwas vor, lass sie glauben, Amarra sei noch da. Gib ihnen Hoffnung. Wenn du das tust, wenn sie in dir ihre Tochter sehen, dann behalten sie dich. Für viele Jahre. Und dann kann dir dieses Leben niemand mehr wegnehmen, auch wenn die Eltern einmal nicht mehr da sind.« Sie legt mir die Hand an die Wange. »Das ist mein einziger Trost.«
Also vertreibe ich die Sorgenfalten auf ihrem Gesicht, indem ich ihr verspreche, gehorsam zu sein. Ich verspreche, dass ich alles tun werde, um mich selbst zu vergessen.
Am Abend vor meiner Abreise sitze ich auf meinem Bett. Ich werde nie mehr hierher zurückkehren. Auch meine Vormunde werde ich wahrscheinlich nie wiedersehen. Mein bisheriges Leben ist vorbei. Ab jetzt bin ich Amarra.
Das Zimmer wirkt kahl und nackt, was eigentlich nicht sein kann, weil sich ja gar nicht viel verändert hat. Ich musste nur meine Kleider und wenige andere Dinge einpacken. Trotzdem scheint das Zimmer schon jetzt unbewohnt, als wäre ich längst ausgezogen. Ich lege mich in meinen Kleidern aufs Bett und will den Kloß hinunterschlucken, den ich im Hals spüre. Morgen kommen alle meine Vormunde, um mich ein letztes Mal zu sehen. Dann verabschieden wir uns.
Wie soll ich das aushalten? Wie soll ich weiterleben, ohne Mina Ma je
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