Lost Girl. Im Schatten der Anderen
gelaunt«, sagt er, als ich mich zum Gehen wende. »Wir werden uns bestimmt prächtig verstehen.«
Wir laden mein Gepäck in Rekordzeit ins Auto. Meine Beine sind bleiern und ich versuche Zeit zu schinden, wo es nur geht. Den Abschied lasse ich wie betäubt über mich ergehen, konzentriere mich nur darauf, nicht loszuheulen. Ophelia schluchzt laut, als sie mich umarmt. Erik wird uns zum Bahnhof fahren, also gehe ich zu Mina Ma und zwinkere meine Tränen weg. Sie hält mich fest und flüstert mir ins Ohr: »Sei brav. Und glücklich.«
Sie ist das Letzte, was ich sehe, bevor das Auto um die Ecke biegt. Im Außenspiegel begegne ich dem amüsierten Blick von Matthews dunklen Augen. Ich wende mich ab und hasse ihn.
Der Abschied von Erik am Bahnhof fällt mir unerträglich schwer. Erik ist nun das Letzte, was mir geblieben ist, die letzte Verbindung zu dieser Welt, die ich so wütend beschimpft und doch geliebt habe. Matthew betrachtet summend eine Möwe über uns, während ich Erik nachsehe, der zum Auto zurückkehrt, einsteigt und die Hand hebt, um mir noch einmal zu winken. Ich winke wie ein kleines Kind zurück. Er fährt los und ich denke daran, wie Jonathan mich stundenlang auf der Schaukel im Garten angeschubst hat, wie Ophelia meine Geheimnisse gehütet hat und Erik mich vor anderen Geheimnissen bewahrt hat, weil er mich um jeden Preis schützen wollte – und wie Mina Ma ein Baby geliebt hat, vor dem die Ärzte zurückwichen, wie sie mit mir schimpfte, mich neckte, beschützte und liebte, egal was ich angestellt hatte. Wie glücklich war ich, sie alle zu haben.
2. Schöpfung
E riks Auto verschwindet. Ich folge Matthew in den Bahnhof. In Gedanken bin ich weit weg, wieder im Haus am See, aber ich behalte Matthew im Blick, bin misstrauisch.
Im Zug schweigen wir die erste Viertelstunde. Matthew sagt nur, dass wir in Preston umsteigen müssen. Ich blicke aus dem Fenster und sehe draußen die vertraute englische Landschaft vorbeiziehen. Wir nehmen den üblichen Zug nach London, der auch in Lancaster hält. Eine Weile versinke ich in tiefstem Selbstmitleid und überlege, ob es im Leben noch schmerzvollere Momente geben kann als diesen.
»Durchaus«, sagt Sir Matthew und gähnt. »Bring erst mal ein Kind zur Welt. Soviel ich gehört habe, tut das noch mehr weh.«
Ich sehe ihn verdattert an. Mir fallen tausend Dinge ein, die ich jetzt sagen könnte, aber ich schlucke alle hinunter. »Sie können Gedanken lesen?«
»Nur Gesichter.«
»Also ein Zufallstreffer.«
»Zufälle gibt’s bei mir nicht. Ich habe immer Recht«, sagt Sir Matthew. »Ich weiß alles.«
Unter anderen Umständen hätte ich ihn vielleicht ausgelacht. Aber der Tag ist sowieso schon schrecklich genug und es ist nicht unbedingt ratsam, einen Meister auszulachen, also setze ich auf Skepsis. »Das bezweifle ich.«
»Gut, damit wäre das geklärt. Ich merke schon, ich muss mich anstrengen, um mit deinem scharfen Verstand mitzuhalten.«
Ich durchbohre ihn mit einem finsteren Blick, was Matthew allerdings nicht im Mindesten zu beeindrucken scheint. Seiner Miene nach zu urteilen, ist er zu Tode gelangweilt. Doch sein Blick ist wachsam und er beobachtet mich unablässig. Auch ich beobachte ihn.
»Sie können gar nicht alles wissen.«
»Du wirst feststellen, dass ich das doch kann.«
»Können Sie zum Beispiel Altgriechisch?«
»Selbstverständlich, ich bin sogar ein anerkannter Spezialist für alte Sprachen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Du musst es ja wissen«, sagt er ironisch und zieht eine Zeitschrift aus der Tasche des Sitzes vor sich. Er gähnt wieder ausgiebig. »Du wirst mich jetzt bestimmt gleich mit Fragen löchern, um zu beweisen, dass ich Unrecht habe. Bitte sehr, ich spiele mit. Klug zu sein, ist für mich ungefähr so schwierig, wie einem Kleinkind ein paar Süßigkeiten wegzunehmen. Ich bin darin ausgesprochen gut.«
Eigentlich will ich verneinen, ihm sagen, dass ich ihn gar nichts fragen will und den Rest der Fahrt lieber mein Buch lese. Leider gelingt es mir nicht.
»Wie heißt die Hauptstadt der Türkei?«
»Da musst du dir schon etwas Besseres einfallen lassen«, spottet Matthew. »Ankara.«
»Was war zuerst da, Henne oder Ei?
»Ei«, sagt er gähnend.
»Das können Sie gar nicht wissen, niemand weiß es.«
»Das ist eine durchsichtige Lüge. Habe ich nicht gesagt, dass ich es weiß? Red keinen Unsinn. Es liegt auf der Hand, dass das Ei zuerst da war. Jeder, der nicht ganz dumm ist, weiß das.«
»Was macht
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