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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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nicht, Eva …«
    Eine Trillerpfeife schrillt. Ich muss gehen oder ich breche alle Versprechen, die ich je gegeben habe.
    »Sean«, sage ich.
    »Geh«, sagt er leise.
    Ich lasse ihn los. Ich weiß nicht, wie ich es schaffe, aber ich tue es. Er drückt mich noch einmal, dann lässt er mich ebenfalls los und tritt zurück.
    »Eines Tages werden wir das büßen«, sagt er. »Wir stehen hier und im Zug sitzt ein Meister. Er wird uns das nicht vergessen.« Er schluckt und tritt noch einen Schritt zurück. »Steig ein, Eva, sonst fährt der Zug ohne dich ab.« Und dann dreht er sich um und beginnt wegzugehen. Auch ich wende mich ab, weil ich weiß, er wird nicht zurückblicken, das traut er sich nicht, und ich darf es auch nicht. Ich renne zum Zug und steige gerade noch rechtzeitig ein. Ich spüre den Ruck unter den Füßen. Ich drehe mich nicht um. Und weg ist er.
    Wie soll ich es ertragen, ihn nie wieder zu sehen? Wie können die Meister das von mir verlangen?
    Ich kehre ins Abteil zurück und setze mich dem Meister gegenüber. Ich habe keine Ahnung, was er jetzt tun wird. Er weiß so viel, und ich habe ihm nicht gehorcht. Aber er schweigt. Er sitzt nur da und sieht mich an. Stundenlang sagt er nichts.
    Aber er hört auch nicht auf, mich anzusehen.
    Bei unserer Ankunft in London erlebe ich einen Schock. Mir war nie klar, wie klein Windermere ist und wie gemächlich es dort zugeht. Ich habe noch nie so viele Menschen an einem Ort gesehen wie an diesem Bahnhof. Die vielen Lichter, die Massen von Menschen und die Leuchtreklame überwältigen mich. Ich stehe mitten im Gewühl und versuche, mich nicht anrempeln zu lassen, während Matthew die Anzeigetafel studiert und nach unserer Verbindung nach Heathrow sucht. Ich spüre seine Ungeduld und dass er es offenbar eilig hat, aber ich weiß auch, dass wir bis zu unserem Flug noch viel Zeit haben.
    Mein Blick fällt wieder einmal auf sein Kettenhemd. Ist er deshalb so ungeduldig? Hat er Angst, jemand könnte uns hier, wo wir ungeschützt sind, angreifen?
    Ich breche das lange Schweigen.
    »Warum tragen Sie eine Rüstung?«
    »Rüstung? Das hier?«, sagt er verächtlich. »Hast du schon mal einen richtigen Ritter gesehen? Ich versichere dir, die tragen nicht nur ein solches Hemd. Es dient meinem Schutz.«
    »Schutz?«
    »Vor Messern. Dumme Sache, so eine Messerstecherei, sehr unangenehm.«
    »Warum sollte jemand Sie mit einem Messer angreifen?«
    »Ich weiß, dass du nur ein Echo bist«, sagt Sir Matthew gereizt. »Aber es ärgert mich, wenn ein Echo, das ich geschaffen habe, so begriffsstutzig ist. Hast du etwa noch nie von den Jägern gehört? Sie hassen uns fast genauso wie euch.«
    »Doch«, sage ich und will nicht an den Mann denken, der vor so langer Zeit an dem Laternenpfosten lehnte und vielleicht ein Jäger war. »Aber hier in der Öffentlichkeit wird uns doch wohl kaum einer angreifen.«
    Matthew mustert mich lange mit einem erbarmungslosen Blick. »Du unterschätzt die Gefahren in deiner kleinen Welt, Eva. Du gehorchst mir nicht, du spottest über die Jäger. Tust du nur so mutig oder bist du wirklich so dumm?«
    Ich zucke zusammen. Seine offene Verachtung demütigt mich. Aber ich will mir von ihm nicht einreden lassen, dass ich dumm bin.
    »Glauben Sie, was Sie wollen«, sage ich mit einer Stimme, bei der ihm hoffentlich das Blut in den Adern gefriert. »Aber wie Sie sehen, lebe ich noch.«
    »Was an ein Wunder grenzt, wirklich.«
    Ich weiche seinem Blick nicht aus. »Ich sehe hier keine Jäger. Mir scheint es hier recht sicher zu sein.«
    »Trotzdem.« Er klopft zufrieden auf sein Hemd. »Ich gehe kein Risiko ein. Und ich habe nun mal die Aufgabe übernommen, dich sicher nach Bangalore zu bringen – obwohl ich bei Gott nicht mehr weiß, warum ich das wollte, du bist eine ziemliche Nervensäge. Dass ich die Sache nun durchziehe, ist eine Frage des Stolzes. Stell dir vor, du würdest vor meinen Augen getötet. Oder schlimmer noch, ich selbst würde getötet! Wenn ich mich von Jägern töten ließe, würde Adrian sich noch jahrelang darüber lustig machen!«
    Ich will nicht an die Jäger denken. Sie werden mich nicht finden, es ist ausgeschlossen.
    »Ist Adrian Ihr Freund?« Ein Themenwechsel scheint mir eine gute Idee.
    Matthew nickt. »Ja, das ist er. Mein ältester Freund.«
    Mein Unbehagen wächst. Ich habe nicht vergessen, wie grausam Adrian in dem Interview wirkte, wie vollkommen gleichgültig uns gegenüber und wie besessen von seiner Arbeit. Ich habe auch nicht

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