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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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mich?«, ruft Sasha.
    »Und dich.« Ich zerzause ihr die Haare, und Nik und ich sehen uns grinsend an. »Dich am allermeisten, Sash.«
    »Gut«, sagt sie zufrieden.
    Ich bleibe eine Folge lang, dann gehe ich wieder nach oben. Ich kann nur eine begrenzte Anzahl obercooler Superhelden und abscheulicher Bösewichte ertragen.
    Als ich wieder in Amarras Zimmer bin, sehe ich als Erstes die Postkarte vom Lake District auf ihrem Schreibtisch liegen. Obwohl ich wusste, dass ich dafür bestraft werden kann, habe ich Sean Anfang November eine Geburtstagskarte geschickt. Zwei Wochen später kam die leere Postkarte. Wie in alten Zeiten.
    Ich gehe zu Bett, aber als ich die Augen schließe, sehe ich die Postkarte immer noch vor mir. Die darauf abgebildeten Seen und Hügel lassen mich an zu Hause denken, an Sean und Mina Ma, und das tut mir weh. In der Stadt begegne ich ihnen fortwährend. Ein Tourist auf der Straße könnte Erik sein, ein Mann in der Buchhandlung Jonathan. Wenn ich blonde Haare sehe, stelle ich mir vor, es ist Ophelia. Der Geruch von Mina Mas Handcreme, einer in Bangalore sehr beliebten Marke, folgt mir auf Schritt und Tritt. Eine Folge der BBC -Serie Robin Hood konnte ich nicht zu Ende ansehen, weil der Schauspieler, der Robin Hood spielte, dieselben Haare wie Sean hatte. Jedes Mal wenn ich mich mit Ray treffe, habe ich ein schlechtes Gewissen, als hätte ich irgendeine Abmachung gebrochen, als würde ich ihn und Sean gleichzeitig betrügen. Meine Vergangenheit verfolgt mich und lässt sich, genau wie Amarra, nicht abschütteln.
    Ich kann nicht schlafen und muss fortwährend an Sean denken. Entnervt mache ich das Licht wieder an und sehe mich nach etwas zu lesen um. Die Bücher in Amarras Regal habe ich bereits alle irgendwann im Laufe unseres gemeinsamen Lebens gelesen, deshalb suche ich nach dem Buch, das Sean mir geschenkt hat, der Britischen Romantik .
    Es sieht langweilig aus. Auf der Rückseite des Umschlags ist keine Beschreibung. Ich streiche über den zerknitterten Buchrücken und stelle erst jetzt fest, dass der Umschlag, der schon alt ist, schlecht passt. Als ich ihn abnehme, kommt darunter ein altes, zerlesenes Buch zum Vorschein. Der Text auf dem Buchdeckel wurde mit einem dicken Filzstift geschwärzt. Verwirrt blättere ich durch die ersten Seiten.
    Auf der ersten Seite halte ich erschrocken inne. Ich muss zweimal hinsehen, bis ich mir sicher bin, dass ich mir das, was da steht, nicht einbilde.
    Mary Shelley
FRANKENSTEIN
oder
Der moderne Prometheus
    »Nein«, rufe ich ungläubig. Mein Puls rast und mir wird ganz heiß vor Aufregung. »Das darf doch nicht wahr sein.«
    Sean hat gegen eine Vorschrift verstoßen, die im Haus am See immer eisern eingehalten wurde. Frankenstein und alles, was damit zu tun hatte, war verboten. Sean blieb hart, obwohl ich ihn oft genug bedrängt habe. All mein Bitten und Flehen half nichts. Dann, als feststand, dass ich England verlassen würde, gab er nach und schenkte mir das Buch.
    Ich starre es an, die fleckigen Seiten und den losen Einband. Ich zögere, habe Angst vor den Geheimnissen, die ich vielleicht erfahre, Dingen, von denen ich, wenn es nach dem Willen der Meister ginge, nichts wissen darf.
    Mit größter Vorsicht blättere ich um und beginne zu lesen.
    Unter der Bettdecke verborgen, lese ich wie gebannt bis spät in die Nacht. Seite für Seite entfaltet sich die schauerliche Geschichte und nimmt Gestalt an. Stimmen erwachen zum Leben und flüstern mir ins Ohr. Die Stimme des Mannes, der aus dem Nichts einen Menschen erschuf, ihn verstieß und einen schrecklichen Preis dafür zahlte. Eine Geschichte voller Gewalt und Tragik, aber da ist noch etwas: Kraft. Die Kreatur, das Monster, gewinnt. Sie besiegt den Mann, der sie geschaffen hat. Mehr noch: Sie tötet ihn.
    Ich lese das Buch in einem Zug durch, und als ich danach auf die Uhr sehe, ist es fast Morgen. Ich lege das Buch weg und rolle mich so klein zusammen, wie es nur geht.
    »Sean, ich glaube, ich habe verstanden«, flüstere ich.
    Er antwortet nicht. Ich versuche, mir sein Bild ins Gedächtnis zu rufen, doch stattdessen sehe ich etwas ganz anderes, höchst Seltsames: ein Mädchen aus einer längst vergangenen Zeit, gesichtslos und für mich kaum mehr als eine Legende. Ein Echo, das einst den Meistern trotzte.
    Seine Lippen bewegen sich. Es fordert mich auf, den Meistern die Stirn zu bieten. Denn ich könnte gewinnen – wie Frankensteins Monster.
    Ich habe schon fast vergessen, wie heiß es bei meiner

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