Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Ankunft war. Jetzt ist es nachts kalt. Es ist die einzige Jahreszeit, in der die Luft klar und frisch ist und nach Sternen riecht statt nach Staub und Gewürzen.
Weihnachten feiern wir nicht, aber ich beobachte, wie Alisha Neil bei Tisch besorgte Blicke zuwirft, woraus ich schließe, dass sie Weihnachten feiern wollte, er aber dagegen war. Wahrscheinlich kann er nicht ertragen, Amarras Lieblingsfest ohne sie zu feiern. Von Nikhil erfahre ich später, dass sie normalerweise einen struppigen Weihnachtsbaum schmücken und Spiele spielen und dass die Kinder Geschenke bekommen. Auch Diwali haben sie in diesem Jahr nicht gefeiert. Sonst gingen sie im November mit Lampen, indischen Süßigkeiten und Feuerwerksraketen auf die Straße und vergnügten sich dort stundenlang im Schein der funkelnden Lichter. Ich muss an Mina Ma und zu Hause denken und an unsere albernen Weihnachtsfeiern. Einmal hat Erik Mina Ma zu Diwali mit kleinen Lämpchen und einer Schachtel Knallfrösche überrascht. Unsere Nachbarn waren davon damals nicht gerade begeistert.
Im Januar fängt die Schule wieder an und ich erkunde Bangalore auf eigene Faust. Die Hektik und die Geräusche der Stadt verwirren mich. Ich bin fasziniert von den Gewürzen und Gerüchen und Merkwürdigkeiten, etwa den Männern, die auf einem Friedhof um einen Grabstein hocken und Tee aus stählernen Tassen trinken. Wenn ich freiwillig hergekommen wäre, um Urlaub zu machen, hätte mir alles wunderbar gefallen: die Hügel und Wälder und die Tempel mit ihren Statuen. Ich hätte mir gewünscht, einem wild lebenden Elefanten zu begegnen oder im Wald aus der Ferne einen Tiger oder Panther zu sehen, so wie Jaya oder Lekha. Sie erzählen mir von ihren Erlebnissen und es klingt unglaublich.
Aber ich bin nicht freiwillig hier. Diese Stadt ist der Ort, an dem Amarras Geist umgeht. Doch wenn ich allein unterwegs bin, kann ich wenigstens die Maske fallen lassen. Ich muss dann nicht Amarra sein, es kommt mir eher so vor, als wären wir zu zweit unterwegs, Geist und Echo gehen Seite an Seite. Niemand mustert mich misstrauisch. Manchmal begegne ich einer Tante oder einem Onkel von Amarra und sie kneifen mich in die Wange und fragen nach der Schule und der Familie, aber solche Begegnungen sind selten.
Ich gehe in die Stadt, so oft ich kann. Ich koste von dem Essen, das auf der Straße verkauft wird, kaufe Bücher in einem kleinen Laden in der Church Street und spaziere durch die Einkaufszentren. Ich halte nach Leuten Ausschau, von denen ich weiß, dass ich sie hier nicht finden werde. An einem silbergrauen Morgen wünsche ich mir in einem Tempel etwas. Ich wünsche mir, nach Hause zurückzukehren.
Manchmal habe ich Albträume von dem Unfall, bei dem Amarra gestorben ist. Tagsüber verdränge ich die vorbeirasenden grellen Scheinwerfer, die kreischenden Reifen des Motorrads und das Bersten der Scheibe aus meinem Gedächtnis. Dennoch ist Amarras Geist in dieser Zeit ständig in meiner Nähe. Ich wüsste gern, was sie dächte, wenn sie mich sehen könnte, ob sie mich noch mehr hasste und ob sie sich dort, wo sie jetzt ist, wünscht, dass ich scheitere.
Wenn es so ist, geht ihr Wunsch in Erfüllung. Denn ich mache einen Fehler zu viel. Aus Unachtsamkeit – ich habe keine Entschuldigung dafür. Ich passe nur für einen Augenblick nicht auf, aber das genügt.
An einem Freitag beim Mittagessen wühlt Sonya in meiner Tasche und zieht eine Tüte Ruffle-Lays-Crisps heraus.
»Cream and Onion?«, fragt sie und rümpft die Nase. »Du hattest doch immer Classic Salted.«
Ich sitze am Tisch und will noch schnell die Erdkundehausaufgaben fertig machen, die ich am Abend zuvor aus Müdigkeit nicht mehr geschafft habe. Deshalb höre ich ihr nur mit halbem Ohr zu.
»Ich mag Classic-Salted-Crisps nicht«, sage ich zerstreut. »Die schmecken nach nichts.«
»Warum Crisps?«
Ich blicke auf und bin in Gedanken immer noch bei Gesteinsschichten und Bodendichte. »Wie bitte?«
»Crisps«, wiederholt Sonya. »Du hast zu den Chips eben Crisps gesagt.«
Sie wartet nicht auf eine Antwort, sondern reißt die Tüte auf und bedient sich. Ich starre sie mit klopfendem Herzen an. Musste das sein? Musste sie unbedingt nachfragen? Und schlimmer noch, musste ich den Fehler an einem Tag machen, an dem Ray mit uns isst?
Ich zwinge mich, ihn anzusehen, und bete, dass er vielleicht, nur ganz vielleicht, nicht zugehört hat. Aber er hat es gehört.
Der Ausdruck auf seinem Gesicht sagt alles. Er ist fassungslos, als hätte
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