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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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sein können.«
    Ich drücke die Hand auf das Pflaster aus Angst, Sonya könnte es mir abreißen. »Nein«, sage ich viel zu entschieden. Ich klinge überhaupt nicht wie Amarra. Amarra hätte geseufzt und schulterzuckend nachgegeben, um sich nicht lächerlich zu machen. Ich dagegen tue das Gegenteil und weigere mich wütend.
    »Aber …«
    »Ihh, verdammt«, schreit eine hohe, klare Stimme keine zehn Schritte von mir entfernt. »Nicht schon wieder eine Spinne!«
    Sonya flieht kreischend in die entgegengesetzte Richtung. Ich sehe mich um. Eine Spinne entdecke ich nirgends, zumindest nicht in meiner Nähe. Wer hat geschrien? Ich sehe Lekha, das Mädchen, das Sam damals an meinem ersten Schultag zurechtgewiesen hat. Sie sitzt auf dem Rand eines Waschbeckens und wirkt keineswegs erschrocken. Im Gegenteil, sie unterdrückt krampfhaft ein Lachen angesichts des albernen Schauspiels, das Sonya und die anderen Mädchen aufführen.
    Die Panik legt sich wieder. Mit gerunzelter Stirn werfe ich ihr einen verstohlenen Blick zu. Wir grüßen uns, wenn wir uns sehen, und im Literaturkurs sind wir meist die Einzigen, die sich melden. Lekha wirkt nett. Witzig. Sie sagt merkwürdige Sachen und bringt ständig Wörter durcheinander. Sie und Amarra haben einander seit Kindertagen gekannt, sie trafen sich aber nur selten außerhalb der Schule, deshalb war sie nicht weiter wichtig für mich.
    Jetzt dagegen hat sie meine volle Aufmerksamkeit. In der Umkleide ist keine Spinne, da bin ich mir inzwischen ziemlich sicher.
    »Mach dir nicht in die Hose«, schimpfe ich mich leise. Wenn Amarras beste Freundinnen nicht gemerkt haben, dass ich nicht Amarra bin, wie soll ein Mädchen, mit dem Amarra kaum zu tun hatte, es dann wissen?
    Ich entkomme der Sportstunde noch einmal unentdeckt, aber auch die Weihnachtsferien sind für mich nicht besonders erholsam. Ich treffe mich weiter mit Amarras Freundinnen und auch mit Ray. Er verhält sich zurückhaltend, aber ich kann nichts tun, um überzeugender zu wirken.
    Die ständige Anspannung macht sich allmählich bemerkbar. Ich bin nie richtig ausgeruht. Die leichten Schatten unter meinen Augen werden zu dunklen Ringen.
    Nachts liege ich wach und denke an die verschiedensten Gefahren: einen Mann mit einer alten Karte, der gegen einen Laternenpfosten lehnt, den Zoo, den Griff von Matthews Hand um mein Handgelenk, die Begegnung mit Sean auf dem Bahnhof, Adrian Bordens goldene Augen. Wenn ich dann endlich einschlafe, träume ich wirres Zeug von Uhrentürmen, Meistern und in der Dunkelheit lauernden Jägern, von einer Frau mit traurigen Augen, die mich fragt, was ich mir am meisten wünsche. Ich träume von Geistern mit Amarras Gesicht, von grünen Kinderzimmern, von Kanälen und Städten voller Friedhöfe und gelbem Nebel.
    Am meisten ängstigen mich allerdings die Träume von Sanduhren, an deren Glas Spinnen hinaufkrabbeln. In diesen Träumen bin ich immer im Glas eingesperrt und der feine weiße Sand füllt den unteren Glaskolben langsam auf. Und ich weiß, dass ich ersticken werde, wenn es mir nicht gelingt, die Sanduhr rechtzeitig zu zerbrechen.

7. Monster
    D afür, dass sie so klein ist, kann Sasha den Mund beim Gähnen ganz schön weit aufreißen. Ich kann praktisch ihr ganzes Abendessen sehen. Während Nikhil und sie unten fernsehen, beobachte ich die beiden vom oberen Absatz der Treppe aus.
    »Solltest du nicht längst im Bett sein, Fräulein?«, frage ich mit gespielter Strenge.
    Sasha kichert. »Aber wir sehen doch gerade dieses Power-Rangers-Dingsda …«
    »Die Serie«, erklärt Nikhil.
    »Die Serie«, wiederholt Sasha. »Mummy und Dad haben gesagt, ich darf aufbleiben und sie ansehen.«
    Ich lächle. Ihre Eltern verwöhnen sie nach Strich und Faden.
    »Willst du mit uns gucken?«, fragt Sasha. Sie hat vor Aufregung ganz große Augen. »Es ist wirklich toll!«
    Nik gibt mir durch einen Blick zu verstehen, dass er das nicht findet, aber auch er lächelt. Ich habe ihn in den vergangenen Monaten nicht gedrängt, mich zu mögen, und nicht versucht, ihn durch besondere Aufmerksamkeit oder übertriebene Freundlichkeit für mich zu gewinnen. Es war von Anfang an klar, dass er zu klug ist, um auf so etwas hereinzufallen. Stattdessen habe ich mir den Luxus erlaubt, ich selbst zu sein. Wenn ich mit ihm und Sasha allein bin, benehme ich mich absichtlich nicht so wie Amarra. Es war die richtige Entscheidung. Er taut mir gegenüber langsam auf. Einmal, während einer Spätvorstellung im Kino, schlief er sogar

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