Lost Girl. Im Schatten der Anderen
wahrscheinlicher ist es, dass ich einen Fehler mache. Ich lächle ihn also entschuldigend an und bitte Alisha, mich auf dem Rückweg aufzulesen. Ray wirkt enttäuscht, akzeptiert aber die Entschuldigung, dass meine Mutter mich mit nach Hause nehmen will, weil ich mich noch möglichst viel ausruhen soll.
Als ich ins Auto einsteige, regnet es, und auf halbem Weg nach Hause stehen wir fast eine Stunde lang im Stau. Alisha legt Musik ein. Die Gypsy Kings. Aber das ungeduldige Hupen der anderen Autos und Lastwagen höre ich trotzdem. Es gibt in Indien keine ruhigen, geordneten Autoschlangen. Ich kurble das Fenster herunter, um frische Luft hereinzulassen, aber ich rieche nur Staub und Benzin, deshalb schließe ich es gleich darauf wieder. Wenig später schlafe ich ein.
Die Wochen nach dem Treffen mit Ray sind stressig. Natürlich musste ich auch früher viel lernen, um wie Amarra zu sein, ich hatte aber wenigstens Verschnaufpausen, Zeiten, in denen ich in Gesellschaft meiner Vormünder ich selbst sein konnte. Ich habe mich noch nie so anstrengen müssen wie jetzt.
Mit Neil führe ich höfliche Gespräche, gegenüber Alisha spiele ich gewissenhaft meine Rolle. Mit Nikhil und Sasha sehe ich fern. Wenn ihre Eltern nicht im Zimmer sind, behandeln sie mich wie mich selbst, und das freut mich. Es tut mir gut. Ich gehe zur Schule und lerne, und außerhalb der Schule treffe ich mich mit Ray. Ich verbringe jetzt mehr Zeit mit ihm, was mir mehr Spaß macht als erwartet. Aber es bedeutet auch, dass mir weitere Fehler unterlaufen. Ich reagiere darauf, indem ich mich zurückziehe, was sein Misstrauen nur verstärkt. Egal wie ich es anstelle, ich kann ihn nicht vollkommen überzeugen.
Wenn ich es nicht länger hinauszögern kann, gehe ich mit Sonya und Jaya aus. Wir gehen zu Coffee Day, ins Kino oder wir sitzen in der Brigade Road auf der Treppe vor dem Barista und essen gewürzte Maiskolben. In diesen Stunden muss ich hellwach sein, um die richtigen Antworten aus meinem Gedächtnis hervorzukramen. Einiges bringe ich durcheinander, oft gibt es aber auch Dinge, von denen Amarra mir nie geschrieben hat, zum Beispiel dass Sonya einmal einen finsteren Rockertyp mit Spitznamen Kurt Cobain als Freund hatte. Ich mache Fehler, aber die anderen glauben mir, wenn ich sage, dass mein Kopf sich immer noch nicht ganz erholt hat.
Im Dezember im Sportunterricht fliege ich einmal fast auf. Es ist ein kalter Winter und alle sind in Gedanken schon in den Weihnachtsferien. In der Mädchenumkleide drehen sich die Gespräche darum, wer die Ferien in Goa am Strand verbringt, wer auf welche Silvesterparty geht, wer einen Baum schmückt und wer zu Heerscharen von nervenden Tanten und Cousinen nach Delhi fahren muss.
Beim Umziehen habe ich meine Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Es fällt mir zwar schwer, aber im Sportunterricht ist es Pflicht. Bisher haben Amarras Freundinnen und Klassenkameradinnen, die alle von dem Unfall wissen, sich mit Fragen nach dem weißen Gaze-Pflaster auf meinem Nacken zurückgehalten. Aber mir war klar, dass es nicht ewig so bleiben würde. Schließlich sind seit meiner Ankunft schon über drei Monate vergangen.
Sonya wählt ausgerechnet die heutige Sportstunde, die letzte des Jahres, um mich darauf anzusprechen. »Willst du uns nicht endlich mal sagen, was dieses Pflaster auf deinem Nacken soll?«
»Sonya …«
»Ich frage sie doch nur, Jaya. Ich mache mir Sorgen, dass da etwas ist, von dem sie uns nichts erzählt hat.« Sonya bleibt in BH und Slip mitten in der Umkleide stehen. »Du hast doch keine offene Wunde? Müsste die nicht inzwischen verheilt sein? Der Unfall ist doch jetzt schon Monate her!«
Ich erstarre. »Ich habe da eine hässliche Narbe und will nicht, dass andere sie sehen.«
»Seit wann stört dich eine kleine Narbe?«, will Sonya wissen. »So kenne ich dich ja gar nicht!«
»Lass sie doch, Sonya«, sagt Jaya. »Es ist Amarras Narbe, nicht deine.«
»Aber …«
»Eine Narbe wie diese hatte ich noch nie«, erwidere ich.
Sonya schnaubt. »Schlimmer als die Narben auf deinem Bauch kann sie nicht sein.«
Ich starre sie entsetzt an. Mein Gott! Amarras blöde Narben von dem Hundebiss habe ich ganz vergessen. Ich hatte diese Narben nie. Seit Wochen ziehe ich mich jetzt vor den anderen um und sie haben nicht bemerkt, dass die Narben fehlen. Noch nicht.
»Na los«, sagt Sonya, »zeigst du sie mir? Ich lache dich auch nicht aus, versprochen. Es gibt wirklich Schlimmeres als Narben. Du hättest tot
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