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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Er starrt mich nur an und sein Mund bewegt sich stumm.
    Ein so kleiner, banaler Fehler. Doch Ray, der Amarras Ausdrucksweise bis in die letzten Feinheiten kennt, verrät er alles.
    Ich sehe, wie sein Blick unruhig umherwandert, während er die einzelnen Teile in Gedanken zusammenfügt. Wie er meine Fehler, die vielen Momente, die ihn misstrauisch gemacht haben, zusammenfügt. Ich sehe, wie er jede Minute und jeden Tag, den ich seit meiner Ankunft mit ihm verbracht habe, noch einmal durchlebt. Und dann tritt ein, was ich am meisten gefürchtet habe: Entsetzen breitet sich auf seinem Gesicht aus, als ihm klar wird, dass er mich berührt, mit mir gelacht, meine Hand gehalten und mich auf Wange und Stirn geküsst hat, obwohl ich nicht Amarra bin.
    »Amarra …«, krächzt er.
    Aber er meint nicht mich, sagt nicht meinen Namen. Er ruft sie, weil er weiß, dass sie nicht da ist. Mir ist eiskalt.
    Ray sieht mich an und blinzelt ungläubig mit den Augen, einmal, zweimal, ganz schnell. Dann steht er auf und geht wortlos aus dem Raum.
    »Was hat er denn?«, fragt Sonya.
    Ich sage nichts. Den Rest des Tages ist mir schwindlig vor Angst.
    Ich bin so verstört, dass ich ein Buch liegen lasse, das ich für meine Mathehausaufgaben brauche. Also lasse ich Sonya und Jaya am Bus stehen und renne noch einmal zum leeren Klassenzimmer zurück. Ich nehme das Buch, drehe mich um und da steht Ray in der Tür. Er muss mir gefolgt sein, um mich allein zu treffen.
    Ich weiche einen Schritt zurück wie ein Tier, das sich in die Enge getrieben fühlt. Seine Augen funkeln schwarz und hasserfüllt.
    »Ich weiß, was du bist«, sagt er heiser.
    »Ich …«
    »Ich war ein Idiot«, sagt er, »ich hätte es gleich merken müssen. Mein Gott, ich habe so viel Zeit mit dir verbracht! Dich berührt.« Er schlägt die Hände vor das Gesicht. »Ich wusste, dass etwas nicht stimmt, dass du früher anders warst. Aber ich habe gehofft – Scheiße, Mann, war ich dumm! Ich habe dir geglaubt, als du das mit deiner Kopfverletzung gesagt hast und dass du Probleme mit dem Gedächtnis hast. Lächerlich! Ich wollte dir glauben. Ich wollte mir nicht vorstellen, dass sie tot sein könnte, denn das hätte bedeutet, dass ich sie getötet habe, dass sie nie mehr zurückkommt …«
    Ich mache instinktiv noch einen Schritt nach hinten, weiche vor dem Klang seiner Stimme zurück wie vor einem Windstoß. In ihr höre ich, dass sich Wut und Schmerz schon viel zu lange in ihm aufgestaut haben.
    »Ray …«
    »Sag nicht meinen Namen! Nie mehr! Ich weiß nicht, wie du es aushältst, so zu sein. Findest du es nicht krank, hier aufzutauchen und einfach das Leben von jemand anders zu stehlen? Oder hast du gar keine Gefühle, weil du kein richtiger Mensch bist?«
    Ich hole tief Luft, ignoriere seine Worte und die Wut, die in mir aufsteigt. Am liebsten würde ich alles abstreiten, ihm sagen, dass es nicht wahr ist. Aber ich bringe kein Wort heraus, es geht einfach nicht. Ich kann ihm nicht in die Augen sehen, nicht in seiner jetzigen Verfassung, und ihm sagen, dass er sich irrt. Er würde mich eher schlagen, als mir zu glauben. Zu Recht.
    »Verschwinde einfach«, faucht er. »Warum haben sie dich geschickt? Es sollte dich doch eigentlich gar nicht mehr geben!«
    Ich starre ihn an. »Was soll das heißen?«
    »Ich dachte …« Ray bricht ab. Er ballt die Hände zu Fäusten und öffnet sie wieder. »Warum bist du gekommen?«
    »Ich musste.«
    »Aber wir wollen dich hier nicht!« Er schreit jetzt fast. »Hör auf so zu tun, als wärst du Amarra. Du bist es nicht! Du bist überhaupt nichts, nicht einmal ein Mensch.« Er senkt die Stimme wieder und sagt ganz leise und wie betäubt vor Schmerz und Hass: »Du hast uns alle angelogen. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich sage den anderen, dass du uns reingelegt hast. Alle sollen wissen, was du bist.«
    »Wenn du mir zuhören würdest …«
    »Warum? Bin ich dir vielleicht etwas schuldig? Du hast mich nur angelogen. Du hast mir weisgemacht, du wärst Amarra. Haben wir nicht verdient zu wissen, dass sie tot ist?«
    Ich will etwas sagen, aber ich schaffe es nicht. Meine Lippen bewegen sich stumm. Ray geht nach draußen. Einmal dreht er sich noch um.
    »Du bist ein gefühlloses, verlogenes Monster.«
    Er knallt die Tür hinter sich zu. Ich zucke zusammen und wische mir wütend die Augen, weil ich nicht will, dass mir Tränen über die Wangen laufen.
    Das war’s dann also. Benommen starre ich durchs Fenster

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