Lost Girl. Im Schatten der Anderen
kämpfe ich ständig gegen das Bedürfnis, mich vor lauter Nervosität zu übergeben. Sobald ich an die Schule denke, bekomme ich Magenkrämpfe und ich muss Alishas Schlaftabletten nehmen, um überhaupt zur Ruhe zu kommen. Ich weiß nicht, mit wem Ray über das Wochenende vielleicht schon gesprochen hat. Mit Sonya und Jaya jedenfalls nicht. Beide haben mich ein paarmal angerufen und normal geklungen. Aber Ray wird noch viele Gelegenheiten haben, mit ihnen und allen anderen zu sprechen.
Am Montagmorgen bietet Neil mir an, in der Schule anzurufen und mich wegen Krankheit zu entschuldigen, aber ich sage, dass ich hingehen will. Alisha scheint sich darüber zu freuen. Sie gehört zu den Menschen, die glauben, dass man sich vor Problemen nicht drücken darf.
Ich mache mich hastig fertig, suche nach einer Schuluniform, die nicht in der Wäsche ist, und finde schließlich einen Ersatzrock und eine saubere Bluse im Schrank. Außerdem lege ich noch eine von Amarras Lieblingshalsketten um, weil ich das Gefühl habe, dass ich mich heute besonders anstrengen muss, wie sie auszusehen. Dabei verfluche ich mich die ganze Zeit. Ich gäbe alles darum, heute nicht zur Schule gehen zu müssen. Am liebsten nie wieder, aber ich muss. Wenn die Täuschung auffliegt, habe ich ausgedient, dann brauchen meine Nenneltern mich nicht mehr.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle muss ich mich am Straßenrand übergeben und sorge damit für einiges Aufsehen. Sasha und Nikhil sorgen sich furchtbar. Nik schlägt vor, ich solle wieder nach Hause gehen, und bietet sogar an, mich den größten Teil der Strecke zu begleiten.
»Nein«, erwidere ich, »es geht mir schon wieder besser.«
Von wegen.
Ich richte mich auf, trinke einen Schluck Wasser und steige in den Bus ein. Wir rumpeln los und ich wehre Jayas besorgte Fragen ab. Meine Zunge wird mit jeder Meile, die wir uns der Schule nähern, schwerer.
Als wir am Schulhof halten, sehe ich Ray sofort. Er steht allein und halb versteckt beim Wasserspender am anderen Ende des Hofs und hat mir den Rücken zugekehrt. Ich blicke mich rasch um. Sieht mich jemand komisch an? Ich bemerke nichts Außergewöhnliches. Alle sind mit dem üblichen Montagmorgengeplauder beschäftigt. Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder Ray zu.
Ich bin so auf ihn konzentriert, dass ich Lekha versehentlich anremple.
»Entschuldigung.«
»Schon okay. So schnell falle ich nicht um!«
Ich will gerade weitergehen, da fällt mir auf, dass sie ebenfalls in Rays Richtung sieht. Der Blick ihrer runden Augen ist hellwach und sie hat den Kopf wie ein Vogel schräg gelegt.
»Amarra?«, sagt sie, bevor ich mich abwenden kann. »Ich weiß, dass du denkst, du wärst ganz allein und niemand würde dir helfen, aber das stimmt nicht. Du schaffst das, du wirst sehen. Niemand ist je allein.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sage ich und sie bleibt stehen. »Warum sollte ich denken, ich wäre allein?«
Lekha hebt überrascht die Augenbrauen. »Wir wissen beide, dass du nicht die Amarra bist, die den Unfall hatte. Und Ray scheint es jetzt auch zu wissen.« Sie legt den Kopf wieder schräg, ohne mein erschrockenes Gesicht zu beachten. »Ich an deiner Stelle würde mich jedenfalls einsam fühlen und hätte Angst. Und ich würde diese Kette öfter tragen, sie ist wirklich hübsch. Aber das ist jetzt nicht wichtig.« Sie lächelt und ihre Augen funkeln.
Ich öffne den Mund und will in Panik alles abstreiten, aber sie kommt mir zuvor.
»Versuche es mit Lavendel«, empfiehlt sie, »oder mit Salbei. Findest du das Wort auch so schön? Salbei. So weich und rund. Ich bekomme bei Matheprüfungen immer Panik. Salbei hilft. Oder vielleicht meine ich auch Rosmarin. Ich kann die beiden nicht auseinanderhalten.«
Sie strahlt mich an und geht dann, um zwei Freundinnen zu begrüßen. Ich sehe ihr nach und merke, dass mir zum ersten Mal seit zwei Tagen tatsächlich zum Lachen zumute ist.
Ray spricht den ganzen Tag nicht mit mir. So weit ich das mitkriege, spricht er allerdings auch nicht mit anderen über mich. Einmal ertappe ich Sam, den Jungen, der mich an meinem ersten Schultag angesprochen hat, dabei, wie er mich seltsam anstarrt, aber er wendet den Blick so schnell ab, dass ich nicht weiß, ob ich es mir nur eingebildet habe. Das Warten ist eine Qual.
Doch Ray lässt mich nicht lange warten. Nur bis zum Sportunterricht zwei Tage später.
Ich ziehe mich wie immer um, stecke die Haare hoch und vergewissere mich, dass das Pflaster in meinem Nacken fest
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