Lost Girl. Im Schatten der Anderen
sitzt. Sonya will, ebenfalls wie immer, sehen, was darunter ist. Ich schlage ihre Hand weg, sie lacht und wir laufen nach draußen, um dort auf die Sportlehrer zu warten.
Wir haben den Sportplatz zur Hälfte überquert, da spüre ich zwei Hände auf den Schultern. Ich erkenne sie sofort. Ray hat mich in den Tagen, die wir gemeinsam verbracht haben, unzählige Male an den Schultern berührt. Allerdings nie so.
Erschrocken mache ich einen Schritt nach vorn, aber es ist zu spät, um mich loszumachen. Rays Finger bohren sich schmerzhaft in meine Haut.
Ich bleibe wie erstarrt stehen, schicksalsergeben und zugleich erleichtert. Es ist vorbei und ich brauche kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, weil ich meine Mitschüler betrüge.
»He, was soll das?«, will Sonya wissen. Ihre Stimme ist so laut, dass auch der Rest der Klasse in unsere Richtung sieht.
Ray beachtet sie nicht. Er spricht mit mir und seine Stimme klingt belegt. »Niemand glaubt mir«, sagt er mit einem kurzen, freudlosen Lachen. »Ich habe es den anderen gesagt, aber sie glauben mir nicht. Stattdessen halten sie mich für verrückt. Vielleicht haben sie ja Recht. Vielleicht wird man verrückt, wenn derjenige, den man liebt, stirbt.«
»Ray«, sagt Jaya bittend, »Ray, hör auf … Du spinnst …«
»Nein«, erwidert er unendlich traurig. »Ich wollte, es wäre so. Ich wollte, ich würde mich irren und sie wäre Amarra.«
Auf dem Sportplatz ist es totenstill geworden. Ray hält mich an den Schultern gepackt, damit ich nicht davonlaufen kann. Was allerdings gar nicht nötig wäre, selbst wenn ich wollte, könnte ich mich nicht rühren. Meine Knie sind wie Pudding. Vielleicht muss ich mich gleich wieder übergeben.
»Du verbreitest diese Scheiße jetzt seit zwei Tagen und ich kann sie nicht mehr hören«, schimpft Sonya. »Warum willst du uns weismachen, Amarra sei nicht Amarra?«
»Weil sie es nicht ist. Sie ist ein Echo.«
Sonya lacht ungläubig. »Jetzt bist du völlig übergeschnappt. Amarra hat kein Echo. So was Abartiges.«
Abartiges.
»Doch«, erwidert Ray wütend. »Sie hat es mir selbst gesagt!«
Für den Bruchteil einer Sekunde herrscht schockiertes Schweigen, dann läuft Sonya dunkelrot an. »Sie hat dir gesagt, sie hätte ein Echo?« Sie ist außer sich, eifersüchtig und in diesem Moment tausendmal wütender auf Ray als auf mich.
»Du tust Amarra weh, Ray«, sagt Jaya leise. »Lass sie doch los.«
»Ihr glaubt mir nicht?«, ruft Ray herausfordernd. »Aber diesmal kann ich es euch beweisen. Wollt ihr die Narbe sehen, die sie immer versteckt?«
Mit einem Ruck reißt er mir das Pflaster ab und dreht mich um, damit die anderen meinen Nacken sehen können. Auf seinem Gesicht mischen sich Genugtuung, Wut und Trauer.
Wir hören beide, wie die anderen erschrocken Luft holen. Plötzlich sehen sie Ray mit anderen Augen. Er ist nicht mehr der Verrückte, man hat ihm Unrecht getan.
»Bitte sehr«, sagt er bitter. »Jetzt wisst ihr, mit was ihr es zu tun habt.«
»Aber …«, setzt Sonya an, dann versagt ihr die Stimme. »Aber das hieße doch … dass Amarra … dass sie …«
Ray lässt mich unvermittelt los. »Ja«, sagt er mit von Kummer erstickter Stimme. »Ich weiß.«
»Nein!«, schreit Sonya. »Nein, das kann nicht sein! Niemals!«
»Frag sie«, sagt Ray. »Frag sie, wer sie ist. Was sie ist.«
»Ich bin kein Gegenstand«, entgegne ich empört. »Du bist ungerecht.«
»Was Ray sagt, stimmt also?«, fragt jemand kaum hörbar.
Ich zwinge mich, die Schultern zu straffen und die Wahrheit zu bekennen. »Ja«, sage ich und das Blut dröhnt mir in den Ohren. »Er sagt die Wahrheit.«
»Ich fasse es nicht«, stammelt Sonya. Das Mädchen, das mich immer so liebevoll angesehen hat, ist verschwunden. Vor mir steht ein Mädchen, dem allein mein Anblick zuwider ist. »Du hast uns monatelang angelogen! Du hast Amarras Leben gestohlen und so getan, als …«
Unter den Umstehenden wird empörtes Flüstern laut wie von Wespen, die in einen engen Behälter gesperrt sind. Ich muss mich zwingen, nicht vor ihnen zurückzuweichen.
»Ich musste es tun.«
Das klingt nicht einmal in meinen Ohren überzeugend. Wenn man Pflicht und Gesetz gegen Tod und Trauer aufwiegt, verliert die Pflicht jeden Wert.
Einen entsetzlichen Augenblick lang herrscht Schweigen.
»Es tut mir leid«, sage ich. »Ich wollte niemanden hintergehen.«
»Es tut dir leid?«, wiederholt Sonya. »Leid? Weißt du überhaupt, was das heißt? Kennst du überhaupt den
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