Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
Vom Netzwerk:
immer verstecken und niemand müsste je davon erfahren. Und dann kamst du – und ich mochte dich wirklich. Ich hatte zwar auch ein schlechtes Gewissen, weil ich mein Versprechen gegenüber Amarra nicht gehalten hatte, aber ich konnte doch nicht …«
    Ich lege ihm den Arm um die Schultern und drücke ihn an mich. »Das war sehr lieb von dir«, sage ich leise. Meine Stimme zittert leicht. »Aber warum gibst du mir den Brief jetzt?«
    Er blickt zur Decke, in Alishas Richtung, wie mir klar wird. Auch er hatte darauf gewartet, dass die Katastrophe eintrat.
    »Als Mom begriff …« Er stockt und zuckt die Schultern. »Ich glaube nicht, dass meine Eltern dich einfach so weggeschickt hätten. Sie wissen, dass dir dann etwas Schlimmes passieren würde, so sind sie nicht. Aber jetzt hatte ich doch Angst, jemand könnte den Brief finden. Ich meine, wenn Mom wüsste, dass Amarra dich nicht wollte, wenn sie nicht mehr glaubt, dass du Amarra bist, dann könnte sie …«
    Ich nicke. »Sie könnte denken, es gäbe keinen Grund mehr, mich zu behalten.«
    »Ja.«
    Ich starre auf den Brief und auf den Schlafbefehl. Meine Finger sind taub und mir ist kalt. »Und was jetzt?«, sage ich halb zu mir, halb zu Nikhil.
    »Du sollst ihn haben.« Er hat sich wieder gefasst, aber unterschwellig höre ich seine Hilflosigkeit und Verzweiflung heraus.
    Ich sehe ihn scharf an. »Nik, du kannst nicht erwarten, dass ich objektiv bin …«
    »Ich weiß«, sagt er. »Aber es ist dein Leben. Du sollst selbst darüber entscheiden.«
    Ich sehe ihn überrascht an und frage mich, ob ich an seiner Stelle genauso gehandelt hätte. Wenn ich jemandem, der mir viel bedeutet, ein solches Versprechen gegeben hätte, hätte ich es brechen und das Richtige tun können? Wahrscheinlich nicht. So selbstlos bin ich nicht. Aber Nikhil tut, was er für richtig hält. Er gibt mir mein Leben zurück.
    »Dann zerreiße ich den Brief jetzt«, sage ich ruhig. Ich spüre Gewissensbisse. Es ist nicht richtig, Amarras Eltern den letzten Brief ihrer Tochter vorzuenthalten.
    Aber solange Neil und Alisha den Brief nicht lesen, solange sie ihn nicht unterschreiben und Amarras Schlafbefehl damit anerkennen, bin ich sicher. Ich kann ihnen den Brief nicht zeigen. Es geht um mein Leben. Auch ich habe Versprechen gegeben.
    Ich suche in Amarras Schreibtisch nach der Schachtel Streichhölzer, die sie immer für ihre Duftkerzen benutzt hat, und zünde eins an, um den Brief und den Schlafbefehl zu verbrennen. Die Asche werde ich in den Mülleimer kippen.
    In genau diesem Moment klopft es erneut und Alisha kommt herein. »Eva«, sagt sie und man hört, wie ungewohnt es für sie ist, mich bei meinem richtigen Namen zu nennen, »hast du Nik gesehen? Er ist nicht in seinem … Ach, da bist du ja! Ich wollte schon …«
    Verwirrt bemerkt sie das brennende Streichholz und unsere schuldbewussten Gesichter. Dann sieht sie den Brief in meiner Hand. Misstrauisch kneift sie die Augen zusammen, dann wird sie blass.
    »Ist das … ist das Amarras Schrift?«
    »Alte Briefe«, sagt Nikhil tapfer. »Eva räumt den Schreibtisch auf …«
    Aber Alisha sieht jetzt mich an und ich weiche ihrem Blick aus. So gut kann ich mich nicht verstellen.
    »Darf ich das bitte sehen?«, fragt sie. Ihre Hand zittert.
    Ich blase das Streichholz aus und gebe ihr den Brief.
    »Danke«, sagt sie. Ihre Stimme klingt sonderbar. Als wüsste sie schon jetzt, was mich die Übergabe des Briefs kosten wird.
    Ich schließe die Augen. Nikhil drückt meine Hand und in der Dunkelheit hinter meinen Augenlidern höre ich die Wespen.

11. Gefangen
    I ch bin eine unverbesserliche Lauscherin, schon immer gewesen. Jetzt stehe ich an der Tür von Neils Arbeitszimmer und belausche sein Gespräch mit Alisha. Ich habe dabei nicht einmal ein schlechtes Gewissen.
    »Aber du kennst sie«, höre ich Alisha protestieren. »Du siehst sie jeden Tag und sprichst mit ihr. Sie ist jetzt wie lange hier? Acht Monate? Wenn du sie ansiehst, denkst du nicht manchmal auch, dass sie genauso ist wie wir?«
    »Aber das ist sie nicht. Sie sieht vielleicht genauso aus wie wir und man hat ihr beigebracht, sich genauso zu verhalten, aber trotzdem ist sie anders.«
    Alisha schnaubt abschätzig. »Manchmal frage ich mich wirklich, ob sie nicht menschlicher ist als du.«
    Mir stockt der Atem. Auf ihre Worte folgt Schweigen.
    »Nein, bitte, es tut mir leid«, sagt sie traurig. »Ich habe das nicht so gemeint.«
    »Glaubst du, ich will ihr wehtun, Al?«, fragt Neil.

Weitere Kostenlose Bücher