Lost Girl. Im Schatten der Anderen
in Erinnerung behalten, wie sie mich kannten. Soll der Moment vor meinem Tod wirklich ihre letzte Erinnerung an mich sein? Es würde Mina Ma das Herz brechen. Ich habe sie enttäuscht. Ich habe alle enttäuscht.
Am folgenden Abend warte ich bis acht Uhr. Ich weiß, dass Alisha um diese Zeit in ihrem Atelier ist. Wenn sie unglücklich ist, verbringt sie viel Zeit mit Malen und Modellieren.
Ich steige zu dem Schlafzimmer hinauf, das sie mit Neil teilt. Auf dem Nachtkästchen liegt ihr Handy. Sie nimmt es nie ins Atelier mit.
Die gesuchte Nummer habe ich schnell gefunden. Ich drücke die grüne Wahltaste.
Es klingelt einmal. Mein Herz beginnt zu klopfen. Zweimal. Dreimal.
»Das erstaunt mich nun wirklich«, meldet sich die vertraute gelangweilte Stimme, in der diesmal allerdings ein Unterton ehrlicher Überraschung mitschwingt. »Zwei Anrufe in zwei Tagen? Du bist offenbar …«
»Hier ist nicht Alisha«, unterbreche ich ihn. »Ich bin es.«
Eine Pause entsteht.
Unter anderen Umständen hätte ich es wohl lustig gefunden. Matthew Mercer ist sprachlos.
»Was willst du?«, fragt er resigniert.
»Sie haben von zwei Anrufen in zwei Tagen gesprochen«, sage ich. »Hat Alisha Sie gestern angerufen und ihnen alles erzählt? Also von dem …«
»… dem Schlafbefehl, ja, hat sie«, sagt Matthew gedehnt. »Dafür, dass sie ihn unterschrieben hat, wirkte sie bemerkenswert besorgt um dein Wohl. Sie meinte, ich könnte dir, äh, wie hat sie sich ausgedrückt? Dir helfen.«
Aus dem verächtlichen Ton, in dem er es sagt, schließe ich, dass mein Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist, aber ich muss es trotzdem versuchen.
»Ich hatte eigentlich auch gehofft, Sie könnten mir helfen«, sage ich ruhig.
»Und warum um alles in der Welt sollte ich das?«
»Weil Sie mich erschaffen haben. Sie haben es selbst gesagt. Ich bin Ihre Schöpfung und Sie mögen es nicht, wenn Sie Ihre Schöpfungen zerstören müssen.«
»Und das gefällt dir, was?« Matthew klingt amüsiert.
»Nein«, sage ich kurz, »überhaupt nicht. Ich finde es schrecklich, Sie um Hilfe zu bitten. Aber wenn ich nicht alles versucht habe, werde ich es später bereuen. Morgen bekommen sie Amarras Antrag. Sie könnten den Schlafbefehl aufheben. Sie könnten mich retten, ich weiß es. Sie können mit mir tun, was sie wollen.«
»Stimmt.«
Ich warte, aber er sagt nichts mehr. Verzweiflung und Hilflosigkeit schnüren mir die Kehle zu.
»Sie haben mich doch geschaffen. Es wäre verschwendete Zeit und Mühe, wenn Sie mich jetzt vernichten.«
»Stimmt auch.« Ich höre ihn gähnen. »Willst du mir lauter Sachen sagen, die ich schon weiß? Wenn ja, muss ich dir leider mitteilen, dass ich keine Lust habe, dir länger zuzuhören …«
»Bitte.«
Ich höre ein entzücktes Kichern. »Sag das noch mal, los.«
»Nein!«, rufe ich aufgebracht. »Wollen Sie mir nun helfen oder nicht?«
»Lieber nicht«, sagt Matthew. Ich blicke zum Fenster hinaus. Ich habe mich an einen letzten Strohhalm geklammert, doch jetzt hat sich auch diese Hoffnung in Luft aufgelöst. »Du weißt doch bestimmt, dass ein Schlafbefehl erst vollzogen werden kann, wenn das Echo achtzehn ist?«
Ich bin verwirrt. »Was?«
Matthew schnaubt. »Was seid ihr doch alle für Ignoranten. Es ist wirklich grotesk. Lernt man heutzutage denn überhaupt nichts mehr? Elsa bestand darauf.« Mit einem tiefen Seufzen fährt er fort: »Sie will keine ›Kinder‹ töten. Solange ein Echo also kein Gesetz bricht und nicht wegen einer Straftat zu uns geschickt wird, kann es erst mit achtzehn entfernt werden. Und da du ja bisher so brav warst – oder eigentlich nicht, aber lassen wir das einmal außen vor –, droht dir auch kein Prozess. Der Schlafbefehl wird also nicht vor deinem achtzehnten Geburtstag vollstreckt.«
»Aber ich werde in weniger als einer Woche siebzehn! Das heißt, mir bleibt nur noch ein Jahr!«
Ich sehe förmlich vor mir, wie Matthew mit den Augen rollt. »Verglichen mit einem Tag ist das eine Menge.«
Er hat nicht Unrecht. Die Hoffnung in mir wächst, wie ein Samen, der nach Sonnenlicht sucht. Ich habe ein Jahr Zeit, mir etwas einfallen zu lassen.
»Ist das Ihr letztes Wort?«, frage ich. »Sie werden den Schlafbefehl nicht annullieren? Und mir bleibt nur noch ein Jahr?«
»Ja, doch. Vollkommen richtig ausgedrückt. Sehr präzise.«
»Vielen Dank«, sage ich bitter.
»Eva.«
Sein Tonfall hält mich davon ab aufzulegen. Ich warte.
»Wie du ja bereits erwähnt hast, habe ich dich
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