Lost Girl. Im Schatten der Anderen
geschmolzenes Eis. »Ich mache mir ständig Vorwürfe und ich vermisse Amarra jeden Augenblick. Ich würde alles tun, um sie wiederzubekommen, wenn es ginge. Und wenn ich manchmal doch glücklich bin, dann weil ich dich sehe und du lachst. Das ist, als würde ich einen Geist sehen. Für eine Sekunde bist du Amarra und ich vergesse, dass sie tot ist.«
Ich will etwas sagen, aber es kommt nichts heraus. Ich spüre ein Pochen in der Brust, etwas schlägt wummernd gegen meine Rippen. Ich suche nach einer unverfänglichen Bemerkung, nur damit er nicht mehr so verloren aussieht.
»Mir scheint«, sage ich streng, »du bist wie Heathcliff auch ein ziemlich launischer Kotzbrocken.«
Er grinst wie gegen seinen Willen. Ich bekomme einen Schreck, denn das Grinsen beschwört in gespenstischer Weise das alte Foto herauf, den Jungen, der noch glücklich war und sich nicht in ohnmächtiger Wut und Kummer verzehrte. Ich selbst fühle mich durch eine schmale Tür in meinem Kopf in jene Eva zurückversetzt, die das Bild zum ersten Mal sah und sich fragte, ob sie den Jungen lieben könnte.
»Wir müssen gehen«, sage ich. »Danke für das Eis.«
Bevor Ray noch etwas sagen oder tun kann, bin ich schon aufgestanden. Ich spüre auf dem ganzen Weg nach draußen seinen Blick auf mir.
Zu Hause setze ich Sasha in ihr Zimmer. Sie muss für ihr Echo über das ganze Wochenende Tagebuch schreiben. Dann eile ich die Treppe hinauf und hoffe, dass ich noch etwas Zeit für mich habe.
Aber schon nach wenigen Minuten klopft es an der Tür.
»Herein«, rufe ich. Ich stecke zur Hälfte unter dem Bett und suche nach Schuhen, die ich seit Wochen nicht mehr getragen habe.
Nikhil kommt ins Zimmer und macht zu meiner Überraschung die Tür hinter sich zu. »Können wir … können wir kurz miteinander reden, Eva? Bitte.«
Er klingt so ungewohnt zögernd, dass ich sofort unter dem Bett hervorkrieche.
»Sei nicht albern, Nik«, sage ich forsch. »Du kannst jederzeit mit mir reden, dazu brauchst du nicht erst zu fragen.«
Das muntert ihn ein wenig auf. Er hält einen Umschlag in den Händen, den er unablässig in den Fingern dreht und wendet. Ich habe ihn noch nie so nervös gesehen.
»Was ist?«, frage ich freundlicher.
»Also es war ungefähr ein halbes Jahr, bevor Amarra … vor ihrem Unfall«, sagt Nik und windet sich ein wenig. »Sie hat mir ein Geheimnis anvertraut. Sie meinte, ich sei der Einzige, der ihr helfen könne. Sie … sie gab mir das hier.« Er klopft auf den Umschlag in seiner Hand. »Ich sollte ihn bei mir aufbewahren. Ich … sie … also sie hat bestimmt nicht geglaubt, dass sie so bald … nicht mehr leben würde.«
»Sie konnte es nicht wissen«, sage ich. »Niemand konnte es wissen.« Ich fordere ihn auf, sich zu setzen, und runzle die Stirn. »Willst du weitererzählen?«
Er nickt unglücklich. »Ich muss. Du musst es wissen.« Er sieht mich unverwandt an. »Also Amarra … Amarra meinte, wenn ihr etwas passiert, also falls sie vor Mom und Dad stirbt, dann solle ich diesen Brief öffnen und lesen. Aber nicht vorher. Ich solle ihn also lesen und zusammen mit dem beigefügten Blatt Mom und Dad geben.«
»Und du hast ihn gelesen?« Ich weiß immer noch nicht, worauf er hinauswill. »Nach dem Unfall?«
»Ja.«
Mehr sagt Nikhil nicht. Er öffnet den Umschlag und hält mir den Inhalt hin. Einen Brief und ein einzelnes Blatt Papier.
»Lies«, sagt er.
»Aber er ist nicht an mich gerichtet …«
»Du musst ihn lesen.«
Ich falte zuerst das einzelne Blatt auf und lese. Es ist mit Computer geschrieben mit Ausnahme von Amarras ordentlicher Unterschrift auf der gepunkteten Linie am unteren Ende. Ich starre die Unterschrift an, weil sie das Einzige ist, was ich auf diesem Blatt verstehe. Der Rest ist ein Durcheinander von Wörtern, die ineinanderlaufen und verschwimmen.
In meinen Ohren summt es, als wäre ich von einem Schwarm wütender Wespen umgeben. Ganz langsam sehe ich die Wörter auf der Seite wieder scharf.
Wörter wie »Antrag auf Beseitigung«. Und »mit sofortiger Wirkung«.
»Das ist ein Schlafbefehl!«, rufe ich entsetzt. »Amarra hat ihn unterschrieben? Aber das … das ist unmöglich … sie darf das gar nicht, nur die Nenneltern und die Meister dürfen es …«
Ich breche ab und meine Worte verklingen wie die letzten, jämmerlichen Töne eines kaputten Musikinstruments. Denn es stimmt nicht. Nicht nur die Nenneltern oder Meister können einen Schlafbefehl erlassen, das war immer nur meine Vermutung,
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