Lost Girl. Im Schatten der Anderen
weil ich nie von einem anderen Fall gehört hatte. Aber offenbar gibt es eine andere Möglichkeit. Mina Ma hat damals davon gesprochen, als sie mir zur Aufmunterung wegen des Tattoos Scones brachte. Auch Matthew hat es mir indirekt gesagt. Er meinte, ich könne von Glück sagen, dass Amarra starb, bevor sie eine Möglichkeit fand, mich loszuwerden.
Nur leider hat sie doch eine gefunden.
Ich zögere nicht mehr. Hastig lege ich den Schlafbefehl zur Seite und lese den Brief, den Amarra an ihre Eltern geschrieben hat. Ich muss wissen, was darin steht.
Liebe Mom, lieber Dad,
es tut mir leid, ich hätte das nicht hinter eurem Rücken tun dürfen, sondern mit euch reden sollen. Es tut mir wirklich leid. Ich hasse es, alles mit einer Fremden teilen zu müssen. Sie nimmt mir alles weg, sie bekommt alle meine Erlebnisse und Erinnerungen und Fotos. Ihr wollt, dass sie euch liebt, wie ich es tue, aber das tut sie nicht. Sie könnte euch schaden. Sie gefährdet euch durch ihre bloße Existenz. Ich hatte immer solche Angst bei der Vorstellung, Nik und Sash und ich könnten eines Tages aufwachen und die Polizei ist da und nimmt euch mit. Ich halte das nicht länger aus, ich muss etwas dagegen unternehmen.
Jetzt, wo ich tot bin, wird sie bei euch leben, aber ich will das nicht. Sie ist jemand anders. Ich will diese zweite Chance nicht, die sie mir eurer Meinung nach geben kann. Ich glaube nicht, dass so etwas möglich ist. Wir sind nicht dieselbe Person.
Ich bin im Internet auf einen Blog gestoßen, in dem sich Leute wie ich austauschen. Also »Andere«. Jemand schrieb, es gebe eine Möglichkeit, sein Echo loszuwerden. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass ich mich selbst von ihm befreien kann. Ich dachte, nur ihr könntet es. Aber es stimmt, es geht tatsächlich.
Allerdings nur mit eurer Zustimmung. Bitte lasst es nicht herkommen. Ich habe den Antrag auf Beseitigung unterschrieben. Ihr müsst nur noch eure Unterschrift daruntersetzen und mir so die Erlaubnis erteilen. Wenn ihr den Antrag an die Meister schickt, werden sie den Rest erledigen. Bitte.
Ich hab euch wahnsinnig lieb.
Amarra
Mein Mund ist trocken.
Amarra hat mich nicht einfach nur gehasst, sie hatte Angst vor mir. Sie hatte Angst, ich könnte ihr alles wegnehmen – und mehr noch, alles kaputt machen. Ich war das Monster, das ihre Albträume heimsuchte.
Deshalb wollte sie mich vernichten. Auf eine merkwürdige Art bewundere ich sie sogar dafür. Ich hätte dasselbe getan, um zu schützen, was mir gehört und mir wichtig ist.
Ich habe Amarra für einen besonnenen Menschen gehalten, der immer höflich nachgibt, selbst wenn ihm etwas nicht passt. Vielleicht stimmte das ja auch. Aber es war falsch zu glauben, sie hätte kein Rückgrat oder sie würde in der Not nicht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln kämpfen. Zum zweiten Mal hat sie nun gezeigt, dass sie sich sehr wohl zu wehren wusste. Zuerst hat sie sich geweigert, mir alles über Ray mitzuteilen. Und jetzt hat sie mich getötet.
»Eva?«
Das ist Nikhils Stimme. Ich will ihm antworten, aber mein Hals ist so trocken, dass ich keinen Ton herausbringe. Die Wespen sind lauter geworden, sie summen jetzt wie verrückt.
Fast muss ich lachen. Da habe ich monatelang alles getan, um meine Nenneltern glücklich zu machen und das Versprechen zu halten, das ich Mina Ma gegeben habe. Sei brav, sei glücklich und mache die Meister und deine Nenneltern froh. Dann werden sie dich behalten.
Aber nun zeigt sich, dass ich mich nicht vor Neil und Alisha oder den Meistern hätte fürchten müssen, sondern vor der Person, von der ich glaubte, dass sie mir nichts mehr tun könnte.
Jetzt waren mir ihr Hass und ihre Angst doch noch zum Verhängnis geworden.
»Eva?«, sagt Nik noch einmal, diesmal lauter. Er sieht so ängstlich aus, so anders als sonst, dass es mir das Herz bricht.
»Geht schon«, lüge ich und befeuchte meine trockenen Lippen. »Warum hast du den Brief noch, Nik? Warum hast du ihn nach dem Unfall nicht gleich deinen Eltern gegeben?«
»Weil …«, setzt er hilflos an. »Weil ich es nicht fertiggebracht habe. Ich wusste, dass du dann sterben würdest. Ich kannte dich damals zwar noch nicht, aber ich wusste, dass du auch Gefühle hast. Dass du nett sein könntest. Amarra hat diese Erfahrung nie gemacht, aber ich. Ich spreche ja mit meinem Echo. Wenn Amarra gewusst hätte, was ich weiß, hätte sie dir bestimmt nichts tun wollen. Deshalb … habe ich den Brief versteckt. Ich dachte, ich könnte ihn für
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