Lost Girl. Im Schatten der Anderen
»Glaubst du, mir macht das Spaß?« Seine Stimme ist belegt, als hätte er geweint. »Aber es geht um den letzten Wunsch unserer Tochter. Den letzten. Wie können wir ihr den abschlagen?«
»Ich weiß. Glaubst du, ich weiß das nicht selbst? Ich will nicht auf ihrem Andenken herumtrampeln, aber ich überlege, was richtig ist. Und Eva zu töten …«
»Sie wird nichts spüren«, sagt Neil. »Du weißt, was Adrian gesagt hat. Es ist wie einschlafen …«
»Du glaubst ihm?«
»Es …« Neils Stimme bricht. »Es ist ihr letzter Wunsch.«
»Ich weiß.«
Eine Pause entsteht, ein angespanntes Schweigen, in dem sich Wut, Kummer und Liebe stauen. Dann sagt Neil: »Ist es wegen der Flügel?«
Ich erstarre.
»Was?«
»Ich habe die Flügel in deinem Atelier gesehen. Hat Eva sie gemacht?«
»Ja, aber das hat nichts …«
»Doch, ich glaube, dass hat es sehr wohl«, entgegnet Neil. »Du wolltest immer ein Kind, dem Kunst genauso viel bedeutet wie dir. Das dein Talent hat.«
»Willst du damit sagen, ich liebe meine Kinder weniger, weil sie sich rein zufällig nicht für Kunst interessieren?« Alishas Stimme ist eisig.
»Natürlich nicht«, sagt Neil müde. »Du würdest sie weiß Gott selbst dann noch lieben, wenn sie sich über Nacht in Kannibalen verwandelt hätten. Aber gehofft hast du es, nicht wahr? Du hast immer gehofft, eins von ihnen hätte deine Leidenschaft für Kunst geerbt. Das Mädchen, das wir jetzt im Haus haben, ist in vielerlei Hinsicht genau das Kind, das du wolltest.«
»Das meinst du nicht ernst!«
Wieder entsteht eine Pause. Dann sagt Neil: »Hast du Matthew eigentlich darum gebeten, sie so zu erschaffen, Al? Ihr diese Leidenschaft und dieses Talent mitzugeben?«
Alisha atmet hörbar ein. »Nein«, sagt sie fest, »habe ich nicht.«
»Könnte er es dir zuliebe getan haben?«
»Matthew interessiert sich nicht mehr dafür, was ich mag, Neil!«, erwidert Alisha. »Und da wir beide keine Ahnung haben, wie Echos gemacht werden, halte ich dieses Gespräch für lächerlich und beleidigend. Ich würde nie Einfluss darauf nehmen wollen, was aus meinen Kindern wird.«
»Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe«, sagt Neil. »Ich habe nur die Flügel gesehen und da dachte ich …«
»Ich bin überrascht, dass du die Flügel gesehen hast, ohne zu begreifen, was sie bedeuten«, entgegnet Alisha. »Eva hat sie gemacht, weil sie traurig ist, Neil. Es sind Flügel. Damit kann man fliegen. Genau das will sie. Leben. Und fliegen. Wie kannst du behaupten, ihre Gefühle seien nicht menschlich?«
»Ich weiß nicht«, sagt Neil. »Ich weiß nur, dass ich, wenn ich zwischen meiner Tochter und ihrem Echo wählen müsste – und genau das verlangst du von mir – Amarra wählen würde. Ich liebe sie, seit sie die Augen aufgeschlagen hat, und ich habe nicht aufgehört, sie zu lieben, als sie sie geschlossen hat.«
»Ich wusste gar nicht, dass sie über ihr Echo so unglücklich war.« Alisha klingt müde und verunsichert. »Sie war immer so pflichtbewusst und hat sich selten über etwas beklagt.«
»Aber sie hasste es, Al. Wir haben sie gezwungen, wöchentlich dieses Tagebuch zu führen. Wir haben ihre Fotos kopiert und sie musste uns mit den nötigen Informationen versorgen. Dabei hat sie nie an eine zweite Chance für sich geglaubt und nie darauf gehofft, es könnte ein Leben nach dem Tod für sie geben. Sie wollte das Leben, das sie hatte, und wir haben sie gezwungen, es mit einer Fremden zu teilen.« Ich höre Papier reißen. »Sie hatte Angst um uns, dass wir ins Gefängnis kommen und sie uns verliert! Wir haben es nicht mal gemerkt. Und jetzt ist sie tot. Ihr den letzten Wunsch zu erfüllen, wird daran nichts ändern, aber es ist das Einzige, was wir noch für sie tun können. Ich kann ihr diesen Wunsch doch nicht abschlagen.«
Alisha schluchzt auf. »Ich will doch nur, dass sie zurückkommt.«
»Ich auch. Mehr als alles andere.«
Neils Stimme zittert. Ich glaube, er weint auch. Ich habe genug gehört, drehe mich um und erschrecke, als ich fast mit Nik zusammenstoße.
»Ja«, sagt er, bevor ich fragen kann, »ich habe alles gehört.« Er wirkt hilflos und verloren wie ein kleines Kind. »Ich dachte, sie würden dich behalten.«
»Das ist wahrscheinlich zu viel verlangt, Nik«, sage ich ruhig, denn er soll nicht merken, wie verletzt ich bin. »Amarra ist noch immer allgegenwärtig für sie. Sie spüren sie, aber nicht in mir. Sie können sie nicht zurückholen, sie nicht retten. Jetzt bleibt
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