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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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Rikscha anhalten kann, bremst neben mir ein Auto, ein schwarzer Ford Scorpio. Die Farbe ist ausgeblichen, die Karosserie an einigen Stellen ziemlich verbeult.
    Die Beifahrertür geht auf. Ray und ich starren uns einen Augenblick an. Er zeigt mit einem Nicken auf den Regen. »Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit nach Hause?«
    Ich zögere, dann steige ich ein. »Danke.«
    »Bitte«, sagt er. Er knirscht mit den Zähnen.
    »Verfolgst du mich?«
    »Natürlich«, sagt er. »Hast du mich gestern Abend nicht mit dem Nachtsichtgerät an deinem Fenster gesehen?« Ich lache. Er lacht nicht mit, aber seine Mundwinkel zucken, als wäre er nahe dran. »Ich war auf dem Heimweg und habe dich gesehen.«
    »Danke fürs Anhalten.« Lächelnd füge ich hinzu: »Ich bin beeindruckt. Du fährst noch.«
    Rays Hände am Lenkrad zucken.
    Ich könnte mich ohrfeigen. »So war das nicht gemeint«, sage ich schnell, »ich war nur überrascht. Ich an deiner Stelle würde wahrscheinlich nie mehr fahren wollen.« Ray wirft mir einen Blick zu. Ich erwidere ihn ernst. »Es war schrecklich, was ich gesagt habe, aber ich habe es wirklich nicht so gemeint.«
    »Keine Sorge, ich weine mich deshalb nicht in den Schlaf.« Er zögert. »Obwohl es stimmt. Ich habe sie getötet.«
    »Es war ein Unfall«, erinnere ich ihn. »Der Typ auf dem Motorrad ist zu schnell gefahren, du konntest nichts dafür. Außerdem hätte Amarra sich anschnallen müssen.«
    »Es war nicht ihre Schuld«, sagt er heftig.
    »Das habe ich auch nicht gesagt«, entgegne ich genauso aufbrausend. »Ich sage nur, du könntest jedem die Schuld geben, wenn du wolltest. Dem Motorradfahrer, dir, Amarra. Aber jemanden zu verlieren ist schlimm genug, finde ich, auch ohne sich selbst dafür verantwortlich zu machen.«
    Ray schweigt eine Zeit lang. Dann: »Woher weißt du das alles? Das mit dem entgegenkommenden Motorrad? Und dass Amarra nicht angeschnallt war? Hat es dir jemand erzählt?«
    »Nein.« Ich zögere, dann sage ich ihm die Wahrheit. »Ich habe gesehen, wie es passiert ist. Ich habe davon geträumt, während es passierte.«
    Auf Rays Gesicht mischen sich Unglauben und Faszination. Seine Hände umklammern das Lenkrad. »Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist. Wie geht das?«
    »Du weißt doch von Alisha, dass Echos noch nicht vollkommen sind, ja? Die Meister arbeiten daran. Wenn es ihnen eines Tages gelingt, uns Echos zu perfektionieren, sind wir Ersatzkörper. Wenn unsere Anderen dann jung sterben, wachen sie in einem neuen Körper auf.«
    Ray nickt. »Hat Alisha deshalb geglaubt, Amarra lebe noch?«
    »Ja, genau. Und sie hatte in gewisser Weise auch Recht.« Hastig füge ich hinzu: »Obwohl ich nicht glaube, dass Amarra noch in dem Sinn lebt, wie Alisha es glaubte. Aber bei meiner Erschaffung haben die Meister mir etwas von ihr mitgegeben, ein Stück von ihrem Bewusstsein. Damit ich genauso werde wie sie. Einen kleinen Teil von ihr trage ich immer in mir. Und deshalb habe ich manchmal, meist wenn ich schlief und meine Gedanken zur Ruhe kamen, Ausschnitte aus ihrem Leben geträumt.«
    »Mein Gott«, sagt Ray, »war das nicht unheimlich? Kam es dir nicht falsch vor?«
    »Ich konnte nichts dagegen tun.«
    »Hast du je …« Er bricht ab.
    Ich habe schon verstanden. Er will wissen, ob ich Amarra und ihn je zusammen gesehen habe. »Nein. Dich habe ich nur einmal gesehen. Nur dein Gesicht. Und ich habe den Unfall gesehen. Mehr nicht.«
    Wir schweigen unbehaglich einige Minuten. Der Regen hat mich durchnässt und ohne die Sonne ist es kalt. Ray drückt einen Schalter und aus dem Gebläse der Klimaanlage kommt warme Luft. Er sagt nichts, aber seine Wangen haben wieder ein wenig Farbe bekommen. Die Hände halten das Lenkrad immer noch fest umklammert. Sein Blick ist abwesend, in den Nebel gerichtet, in dem Amarra verschwunden ist. Sein Zorn und seine Trauer erfüllen das Auto wie Zigarrenrauch. Ich habe keine Ahnung, wie ich da durchkomme. Ich kann mich nur vorsichtig, Schritt für Schritt vorantasten.
    Eine Weile betrachte ich sein Profil. Eine lange Weile. Und begreife etwas.
    »Es war deinetwegen«, sage ich.
    »Was?«
    »Dass Amarra mich loswerden wollte.«
    Dass er nicht überrascht ist, bestätigt meine Vermutung. Er hat es die ganze Zeit gewusst. »Ich dachte, du wüsstest es nicht«, sagt er.
    »Bis vor einer Woche nicht, stimmt. Aber du. Vor ein paar Monaten hast du gesagt, dass es mich eigentlich gar nicht mehr geben solle. Du hast geglaubt, ich sei schon längst tot, du hast

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