Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Wort.«
Lekha macht sich auf den Weg zu ihrem Treffpunkt an der Ecke.
Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung, wo sich die großen Straßen MG Road, Brigade Road und Church Street kreuzen. Ich spaziere sie entlang, folge einer unsichtbaren Spur auf dem Beton, der so heiß ist, dass die Luft darüber flimmert wie Diamantenstaub. In ein, zwei Wochen werden die ersten Regengüsse und Unwetter das Land abkühlen.
Amarras Handy klingelt. Ich sehe auf das Display. Eine unterdrückte Nummer, aber es kommen nur wenige Anrufer infrage.
»Hallo?«
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagt eine Stimme, die ich nur allzu gut kenne.
Ich bleibe wie vom Blitz getroffen stehen. Lachen, Autolärm und Hupen verschwimmen und es wird ganz still um mich.
Sean.
»S-Sean?«, stottere ich ungläubig.
»Ich weiß, es ist eine Weile her«, sagt er munter. »Aber hast du mich wirklich schon vergessen?«
»Von wegen. Ich vergesse nie etwas.«
Er lacht und es durchläuft mich heiß. Nach all der Zeit, den vielen Monaten, ist mir, als wäre die Welt soeben explodiert und in Feuer und Rauch aufgegangen.
»Du sollst mich doch nicht anrufen«, bringe ich heraus. »Wenn die …«
»Ich dachte, du hörst vielleicht gern eine Stimme aus einer anderen Zeit und Welt. Auch wenn es nur für ein, zwei Minuten ist.«
Am ganzen Körper spüre ich ein Kribbeln. Es ist Angst. Zugleich kann ich mich nicht erinnern, je so glücklich gewesen zu sein. Ich will den Kloß in meinem Hals hinunterschlucken, aber er sitzt fest.
»Sean …« Die Stimme versagt mir.
Eine Pause entsteht und wird länger. Dann sagt Sean: »Wie geht es dir?«
Seine Stimme klingt sonderbar, zu dünn. Mein Herz klopft viel zu schnell. Mir ist schwindlig.
»Mir geht’s gut«, sage ich.
»Du lügst.«
»Du weißt es also.«
»Ja«, sagt er hölzern. »Ich weiß es. Wir wissen es alle.«
»Ist Mina Ma … ist sie …«
»Sie ist wütend. Sie will Matthew kastrieren, wenn er dir auch nur ein Haar krümmt. Noch ist sie nicht traurig. Aber lass uns von etwas anderem reden.«
»Ich will nach Hause«, sage ich leise.
»Das wäre schön.«
Beim Klang seiner Stimme sehe ich ihn vor mir. Seine Jeans sind zerknittert, sein Hemd ungebügelt und bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Er sieht müde aus. Er hat sich ein paar Tage lang nicht rasiert, sein Kinn ist stoppelig, seine Haare verstrubbelt. Er wirkt … traurig.
Ich sehne mich so sehr nach ihm.
Wir schweigen wieder. Was nicht daran liegt, dass ich Sean nichts zu sagen hätte. Es gibt so viel zu sagen, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Unser Schweigen wird immer drängender.
»Dann mach ich mal Schluss«, sagt Sean schließlich. »Hier ist es früh am Morgen. Ich war in London, im Theater, und bin erst gerade nach Hause gekommen. Ich bin hundemüde.«
Ich weiß, dass dies sein letzter Anruf sein wird. Es ist vielleicht das letzte Mal überhaupt, dass wir miteinander sprechen. Ich will etwas sagen, damit er merkt, was ich fühle, aber mir fallen nicht die passenden Worte ein.
»Eva«, sagt er und Tränen treten mir in die Augen. »Träumst du immer noch von großen Städten?«
»Ja«, sage ich.
Ich höre ihn schlucken. »Träumst du von mir?«
»Ja.«
»Ich dachte, das hätte sich vielleicht geändert.«
»Ich habe mich nicht geändert.«
»Nein«, sagt er, »ich mich auch nicht.« Und legt auf.
Ich stecke das Handy in die Tasche und starre unverwandt auf den heißen, flimmernden Beton.
Wenn ich die Augen schließe oder mich bewege, ändert sich das Bild, der Bann bricht und ich verliere diesen kostbaren Moment, den Klang von Seans Stimme und das Gefühl, dass er mir ganz nahe ist. Wenn ich mich weiter auf den Beton konzentriere, auf genau dieselbe Stelle, spüre ich Seans Atem in den Haaren und seine Finger auf meiner Haut. Ich steige dann wieder aus dem Zug und renne in seine Arme.
Aber meine Augen fangen an zu brennen und ich zwinkere, ohne dass ich es will. Widerstrebend kehre ich in die Stadt zurück, in die Wirklichkeit. Mit den Fingern streiche ich über das Muschelarmband, das Sean mir geschenkt hat.
Ich gehe die Straße entlang. Was soll ich sonst tun?
Als ich um die Ecke biege, wird mir klar, dass ich mich in Bezug auf das indische Wetter um einige Tage verschätzt habe. Es fängt an zu regnen. Wenige Augenblicke später prasselt der Regen in Strömen auf mich nieder.
Vor mir rennen Menschen auf der Suche nach einem Unterstand fluchend über die Straße. Der Regen ist warm. Bevor ich eine
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