Lost Girl. Im Schatten der Anderen
riecht. Einem Krankenhauszimmer. Am Fenster steht ein leerer Stuhl, an meinem Arm hängen Schläuche. Ein Monitor neben mir piepst im Takt der Schläge in meiner Brust. Ich bin nur mit einem dünnen, grünen Hemd bekleidet. Ein Mann in einem weißen Kittel hält mich am Handgelenk und leuchtet mir mit einer Taschenlampe in die Augen. Ich kneife die Augen fest zu, bis er damit aufhört. Er sagt etwas, aber es klingt dumpf wie durch ein Kissen. Wach zu sein, tut weh.
Der Mann sagt noch etwas und geht dann aus dem Zimmer. Ich will die Augen wieder schließen, aber ich spüre noch jemanden neben mir. Ganz vorsichtig drehe ich den Kopf.
Ich trage einen Verband am Bein und einen Gips an der linken Hand. Mein Körper ist mit blauen Flecken übersät, mein Kopf dröhnt.
Aber ich habe etwas gelobt, meinen letzten Atemzug und meine Seele verpfändet. Nur um wieder bei ihm zu sein. Und neben mir sitzt, der, den ich haben wollte.
»Eva«, sagt Sean. Seine Stimme klingt heiser und rau, aber er ist kein Traum.
Dritter Teil
1. Frieden
D u bist gekommen«, sage ich.
»Ja«, nickt er, »und ich bin etwas gekränkt, dass dich das so überrascht. Hast du etwa geglaubt, dass ich nicht kommen würde? Dass Erik sagt, ach übrigens, Eva wäre fast gestorben, und ich nur mit den Schultern zucke und weitermache, als wäre nichts passiert?«
»Deinen Sarkasmus hast du nicht verloren«, sage ich glücklich, obwohl meine Stimme etwas heiser klingt. »Du hast dich kaum verändert, du siehst nur ein bisschen älter aus.«
Sean lächelt. »Ich bin älter. Du hast mir eine Karte zum Geburtstag geschickt.«
»Ich weiß.«
Ich nehme einen Schluck Wasser. Offenbar hat mir jemand etwas gegen die Schmerzen gegeben, denn nichts tut so weh, wie es müsste. Ich muss Sean ununterbrochen ansehen. Monatelang habe ich mich nach ihm gesehnt und jetzt ist er da. Tränen laufen mir über das Gesicht und er wischt sie weg. Ich will ihn berühren, aber die Bewegung schmerzt. Also lächle ich ihn an. Bestimmt sehe ich schrecklich aus. Mein Gott, bestimmt stinke ich ganz furchtbar.
Seans Augen sind gerötet und müde. Ich betrachte sie, während er abwesend mit dem Daumen über den Rücken meiner gesunden Hand streicht.
»Hast du geweint?«, frage ich.
»Nein«, sagt er und reibt sich verlegen die Augen. »Ich habe in den letzten Tagen nur nicht besonders viel geschlafen.«
»Du lügst.«
»Von wegen.« Er wechselt das Thema. »Du warst in den vergangenen beiden Tagen immer wieder kurz bei Bewusstsein, Eva, und ich habe dich keine Sekunde allein gelassen. Aber ich war nicht der einzige Besucher. Vor ein paar Stunden kam ein Mädchen, Lekha. Deine Nenneltern waren auch hier. Nikhil war kaum davon zu überzeugen, wieder zu gehen. Er hat dich gefunden.«
Bilder der harten, kalten Straße durchzucken plötzlich meine Erinnerung »Wie?«
»Er hat dich stürzen sehen«, erklärt Sean. »Er meinte, du hättest um zehn zurück sein wollen und du würdest dich nie verspäten. Als es halb elf war und du auf Anrufe nicht reagiert hast, ging er nach draußen zum Tor, um dort auf dich zu warten. Und da hat er dich gesehen.«
Ich schnäuze mir die Nase. »Er mag mich«, sage ich.
Sean geht zum Fenster, füllt mein Glas auf und kommt zurück. »Willst du mir erzählen, was passiert ist? Wir wissen immer noch nicht, wie du nach Hause gekommen bist. Ray rief noch in derselben Nacht an. Deine Nenneltern sagen, du seist mit ihm zu einer Party gegangen …« Sean klingt, als gehe ihn diese Tatsache nichts an. »… aber bei deiner Rückkehr wärst du allein gewesen.«
»Stimmt«, sage ich. »Ich war tatsächlich mit Ray auf dieser Party.«
Sean sieht mich ausdruckslos an. »Aha.«
»Wir haben uns öfter getroffen. Es ist alles ziemlich kompliziert. Ray kann Amarra nicht vergessen; immer wenn er mich ansieht, sieht er unweigerlich sie. Und ich kann nicht vergessen, dass ich nicht Amarra bin. Ich kann dich nicht vergessen.« Der Ausdruck auf Seans Gesicht verändert sich. »Aber es gab auch Zeiten, in denen ich Eva war und mir trotzdem wichtig war, was Ray von mir hielt. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nur, dass etwas gründlich schiefgegangen ist, und jetzt liege ich hier.«
»Moment.« Sean runzelt die Stirn. »Du meinst, er ist daran schuld?«
Ich schüttle den Kopf. »Es ist nicht so einfach. Er glaubte, er könnte Amarra zurückholen.«
Ich erzähle alles in der falschen Reihenfolge. Aber mir ist noch so schwindlig und ich zittere am ganzen
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