Lost Land, Der Aufbruch
du allein lebst, brauchst du keinen Namen. Das muss ich dir ja nicht sagen.« Lilah nickte zustimmend. »Ichwar einmal Arthur Mensch â Ranger Artie für die Touristen im Yosemite-Nationalpark. Aber das war vor der Ersten Nacht.«
»Als sich die Welt veränderte und alles schlecht wurde«, ergänzte sie.
»Viele Leute sehen es so«, sagte der Greenman, »aber was sich tatsächlich geändert hat, ist der Tod. Menschen sind noch immer Menschen â einige sind gut, andere schlecht. Der Tod hat sich verändert, und wir wissen nicht mehr, was er eigentlich bedeutet. Vielleicht ging es ja genau darum. Vielleicht brauchten wir Anschauungsunterricht über die Arroganz unserer Annahmen. Schwer zu sagen. Aber die Welt? Sie hat sich nicht verändert, sie ist genesen. Wir haben aufgehört, sie zu verletzen, und ihre Wunden konnten heilen. Du kannst es überall um dich herum sehen. Die ganze Welt ist inzwischen ein Wald. Die Luft ist sauberer. Es gibt mehr Bäume und mehr Sauerstoff. Selbst im Yosemite war die Luft noch nie so gut.«
»Die Toten â¦Â«, setzte Lilah an.
»⦠sind Teil der Natur«, beendete er den Satz.
»Woher weiÃt du das?«
»Weil sie existieren.«
Sie dachte darüber nach. »Du hältst sie nicht für böse?«
»Du denn?«
Sie schüttelte den Kopf. »Menschen sind böse.«
»Ja, einige schon«, räumte er ein. Er schob die Walnussschalen beiseite und begann, die Kerne mit der Käsereibe zu zerkleinern. »Menschen sind alles Mögliche. Manche sind gleichzeitig gut und böse. Zumindest, was ihre eigene Weltsicht angeht.«
»Wie können Menschen gut und böse zugleich sein?«
Der Greenman schaute Lilah in die Augen. »Auf dieselbeWeise wie Menschen sehr tapfer und sehr, sehr ängstlich sein können. Sie können in der einen Sekunde Helden und in der nächsten Sekunde Feiglinge sein. Und dann wieder Helden.«
Sie wich seinem Blick aus. »Ich habe etwas Falsches getan«, sagte sie kaum hörbar. »Ich bin weggerannt.«
»Ich weiÃ.« Er bestätigte nur die Information, ohne sie zu werten.
»Ich ⦠ich habe â¦Â« Lilah schluckte. »Ich habe jahrelang keine Angst vor den Toten gehabt. Schon als kleines Kind nicht. Sie ⦠sind einfach. Verstehst du?«
»Ja.«
»Aber letzte Nacht ⦠es waren so viele.«
»War das der Grund? Lag es nur daran, dass es so viele waren? Tom hat mir erzählt, dass du damals im Hungrigen Wald gespielt hast. Was war denn letzte Nacht so anders?«
Die Katze kam aus dem Wald, sprang auf den Tisch, legte sich hin und zog die Pfoten unter ihren Rumpf. Lilah zupfte weiter Blütenblätter ab. »Ich habe Benny und Nix an der Raststätte zurückgelassen. Ich ⦠bin einfach weggerannt.«
»Bist du vor den Toten weggelaufen? Weil es so viele waren?«
»Ich ⦠ich weià es nicht.«
»Das stimmt nicht«, widersprach er sanft. »Du weiÃt es.«
Lilah musterte das lila Blütenblatt, das in der Pinzette klemmte. »Und das Zeug macht Mut?«
»Nicht wirklich«, entgegnete der Greenman lächelnd. »Es hilft dir, herauszufinden, wo der Mut geblieben ist, den du hattest. Mut ist tückisch, nicht greifbar. Man kann ihn leicht verlieren.«
»Ich dachte, wenn man Mut hat, dann hat man ihn für immer.«
Der Greenman lachte laut auf. Die Katze, die die ganze Zeit vor sich hin gedöst hatte, öffnete ein Auge, schaute ihn kurz an und döste dann weiter. »Lilah, nichts hat man für immer â weder Mut noch Freude, Hass oder Hoffnung. Wir fassen Mut, verlieren ihn und finden ihn jahrelang nicht wieder, aber manchmal sind wir auch eine Weile damit gesegnet.«
Sie überdachte seine Worte, während sie weiter Blütenblätter abzupfte. »Was ist mit Liebe? Ist die auch so flüchtig?«
»Darauf habe ich zwei Antworten, obwohl es wahrscheinlich noch mehr gibt. Da wäre zum einen die groÃe Antwort: Liebe ist immer da. Sie lebt in uns, in uns allen. Selbst Rotaugen-Charlie, so schlecht er auch war, hat etwas geliebt. Er liebte seinen Freund Marion Hammer. Er hatte eine Familie und einst auch eine Frau. Vor der Ersten Nacht. Jeder liebt. Aber das hast du nicht gemeint, ich weiÃ. Die andere, die kleinere Antwort lautet: Wenn wir etwas lieben, dann lieben wir es nicht immer. Es kommt und
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