Lost on Nairne Island
»mit Stiften herumkritzeln«. Er nahm meiner Mom den Zeichenblock ab und blätterte durch die Seiten. Ich spürte, dass bei mir gerade ein ganzer Millimeter Zahnschmelz draufging, so sehr knirschte ich mit den Zähnen. Mein Zeichenblock war echt total intim. Man blättert da nicht einfach so drin rum und sieht sich jemandes Arbeiten an, es sei denn, man wurde dazu ermuntert. Bei der letzten Seite hielt Dick inne. Aus seiner Kehle drang ein sonderbarer Laut.
»Was ist das denn?« Er hielt mir die Zeichnung hin und fuchtelte damit herum, als hätte sie etwas Verbrecherisches an sich. Sein Mund war zu einer schmalen Linie verzogen, doch seine Augen wirkten wütend und matt. Hatte sich seine Meinung zu etwas harmlosem »Rumgekritzel« so schnell wieder geändert?
»Ich hab doch nur das Zimmer skizziert.«
Dick machte ein Gesicht, als hätte ich Tiere in kompromittierenden Posen gezeichnet. Er warf den Block aufs Bett. Da wurde mir klar, dass irgendwas nicht stimmte.
Ich griff nach der Zeichnung und sah sie mir genauer an. Das Zimmer war in kräftigen schwarzen Linien skizziert, die Ecken etwas dunkler schattiert, ganz wie ich es in Erinnerung hatte. Doch jetzt hingen auch noch gerahmte Bilder an den Wänden, die Regale waren voller Kinderspielsachen, Bücher und Plüschtiere. Auf der Fensterbank mitten im Bild saà mein neuer Kumpel, das Plüschzebra, gegen ein Buch gelehnt; auf der Zeichnung hatte er noch beide Augen. Es war dasselbe Zimmer, doch schien es einer anderen Zeit zu entstammen, einer Zeit, als noch jemand anders hier gewohnt hatte.
»Ich hab das nicht gezeichnet«, stammelte ich. Mom zog eine Augenbraue hoch und hob meine Hand von ihrem SchoÃ, um mir das dunkle Grafit zu zeigen, das immer noch an meinen Fingerkuppen haftete. »Nein, ich meine, ich hab schon einen Teil des Bildes gemalt, aber nicht alles«, versuchte ich zu erklären.
»Wenn du das nicht gezeichnet hast, wer war es dann? Dein unsichtbarer Freund etwa?« Mom schüttelte den Kopf und wich meinem Blick aus. »Genau das ist der Grund, weshalb du das mit der Kunst lieber lassen solltest.«
Ich spürte, wie sich mir die Kehle zuschnürte. Nein, ich würde jetzt nicht losheulen. Aus ihrem Mund klang das so, als wäre das Zeichnen schuld an meiner Vision. Hätte ich stattdessen ein Buch gelesen oder so, wäre es erst gar nicht zu diesem sonderbaren Albtraum gekommen.
»Lass mal sehen.« Nathaniel trat einen Schritt vor und wollte nun seinerseits den Block zur Hand nehmen. Dick schnappte ihn sich jedoch, bevor er danach greifen konnte. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte Dick die Seite herausgetrennt und die Zeichnung in der Mitte zerrissen. Selbst meine Mom wirkte überrascht. Dick faltete die Papierfetzen zusammen und riss sie noch einmal entzwei.
»Wenn du das Bild nicht gemalt hast, wirst du es auch nicht vermissen«, sagte er mit einem Grinsen. Er warf die Fetzen in den Papierkorb, wo sie zu Boden segelten wie tote Schmetterlinge. Ich starrte Dick an und fragte mich, ob er nun ernsthaft den Verstand verloren hatte. »Es hat doch keinen Sinn, dass alle sich wegen eines dämlichen Bildes aufregen. Jetzt wird es keine Albträume mehr geben.« Dick tätschelte mir die Schulter, als wollte er mich als Nächstes ins Bett bringen und zudecken. Er warf meiner Mom ein Lächeln zu. »Und du reg dich bitte nicht auf. Sie wäre doch kein normaler Teenager, wenn sie nicht hin und wieder etwas tun würde, was dich aus der Fassung bringt.«
»Ich finde, wir hatten genügend Aufregung für einen Tag«, sagte Mom. Sie nahm Dick an der Hand, dann verlieÃen sie gemeinsam mein Zimmer. Mir war klar, dass sie mit ihm über meine Kunst reden würde, sobald sie zurück in ihrem Schlafzimmer waren. Am liebsten hätte ich geschrien.
Doch das ging nicht. Nathaniel stand immer noch betreten da und sah aus, als wäre ihm gerade erst bewusst geworden, dass wir zwei jetzt allein waren und er nur Boxershorts trug. Mir war klar, dass Nathaniel eher zum Typ Kontrollfreak gehörte, und halb nackt hier in meinem Zimmer zu stehen, war nicht unbedingt das, womit er sich wohlfühlte. Ich jedoch genoss den Moment sehr. Zur Abwechslung war es mal ganz nett, dass er derjenige war, der sich fehl am Platz fühlte.
»Warum bist du zu mir hochgekommen?«, fragte ich.
»Du hast geschrien.«
»Ich meine davor, als du das Licht
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