Lost on Nairne Island
gewesen. Und dann waren da auch ein paar Markierungen mit Evelyns Namen. Ich fuhr mit dem Finger darüber.
Gerade wollte ich wieder nach oben gehen, als ich es mir noch mal anders überlegte. Da ich ganz allein war, war das doch die perfekte Gelegenheit, mein neues Zuhause ein wenig zu erforschen. Auf Socken rutschte ich über die blanken Bodendielen.
Wir wohnten im Ostflügel des Gebäudes. Das Erdgeschoss barg die Küche zusammen mit einem Esszimmer, in dem locker zwanzig meiner Freunde Platz gehabt hätten (wobei ich mir nicht sicher war, ob ich überhaupt zwanzig Leute kannte, mit denen ich gern zusammen gegessen hätte). Und dann war da noch so etwas wie ein Wohnzimmer, eins für formelle Anlässe. Dass es nur für besondere Gelegenheiten genutzt wurde, verrieten mir die absolut unpraktischen Möbel, die sicher nicht für den alltäglichen Gebrauch gedacht waren. Die Kunstwerke an den Wänden verwiesen auch nicht gerade auf einen modernen Geschmack der Wickhams. Der GroÃteil der Gemälde waren Porträts (zweifelsohne von längst verstorbenen, illustren Mitgliedern der Wickham-Familie) und maritime Szenerien.
Direkt nach dem ungemütlichen Wohnzimmer kam ein etwas weniger formelles Familienzimmer. Wenigstens war das Sofa hier nicht hart wie Granit und es gab sogar einen Fernseher. Den stellte ich jetzt an und klickte mich durch die Kanäle. Das Haus hatte Kabelfernsehen, zum Glück. Ich schaltete die Glotze wieder aus und setzte meinen Rundgang fort. Vom Familienzimmer aus führte eine gläserne Doppeltür weiter, allerdings war sie abgeschlossen. Interessant. Eigentlich sollte doch inzwischen jedem klar sein, dass Räume nur noch reizvoller wurden, wenn sie abgesperrt waren. Ich spähte durch die Scheibe. Sah so aus, als handelte es sich um Dicks Büro. Die Dekoration sah sehr nach einem Männergeschmack aus, unter anderem zierten ein paar ausgestopfte Tierköpfe die Wand. Ohne Zweifel hatte die irgendein Wickham gejagt und erlegt, vielleicht auf Safari mit Hemingway oder so. Mir entging nicht, dass auf dem Elchkopf eine dicke Staubschicht lag. Und irgendwas bewegte sich im offenen Maul eines Bären. Es war eine riesige Spinne. Wie abstoÃend! Der moderne Flachbild-Computer auf dem Schreibtisch wirkte irgendwie fehl am Platz.
Dann hörte ich es. Ein hohes, klirrendes Gelächter. Das Lachen eines kleinen Mädchens. Das Bagelstück, das ich soeben abgebissen hatte, blieb mir im Hals stecken. Ich machte ein paar vorsichtige Schritte in den Flur. Wieder hörte ich es, es kam von ganz hinten. Als ich vor der letzten Tür des Flurs stand, zwang ich mich, bis fünf zu zählen. Dabei versuchte ich die Yogaatmung, die Anita mir dauernd beibringen wollte. Ich hatte bestimmt nichts gehört; das war sicher nur der Wind in den Bäumen oder so gewesen. Dann aber vernahm ich abermals ein Lachen. In Sekundenschnelle riss es mich aus meiner zen-ähnlichen Gelassenheit, und schon war ich völlig am Durchdrehen. Mit der Hand umklammerte ich den Türgriff.
»Wer ist da?« Meine Stimme klang zittrig und schwach, ganz anders als beabsichtigt. Ich war ja der Meinung, dass man im Umgang mit Untoten besser bestimmt und selbstbewusst auftrat. Andernfalls würden sie noch auf die Idee kommen, einen zu verfolgen und herumzuspuken, als gehörte der ganze Laden ihnen. Ich räusperte mich und versuchte es erneut, dieses Mal mit ein wenig mehr Nachdruck. »Wer bist du?«
Abermals drang das Gelächter durch die Tür.
»Ich will dir nichts Böses.« Dann wartete ich ab, erhielt jedoch keine Antwort. Vielleicht erhoffte sie sich ja noch weitere Details. »Hast du denn keinen Frieden?« Sobald die Worte aus meinem Mund waren, hätte ich mir am liebsten selbst in den Hintern getreten. Natürlich hatte sie keinen Frieden. Sie war bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen, und das in jungen Jahren. Und jetzt hatte ich ihr Zimmer in Beschlag genommen, ganz zu schweigen von ihrem Plüschzebra. Sie war ein Geist, der allen Grund hatte, sauer zu sein. Man hört ja selten, dass Geister, die ihren Frieden gefunden haben, noch umherspuken. So ein Spuk ist vor allem was für tote Leute, denen es gravierend an Frieden mangelt.
Ich holte abermals tief Luft und stieà die Tür auf. Sie prallte innen gegen die Wand und schwang wieder zurück. Dann fiel sie mir vor der Nase zu. Eines war jedenfalls klar: Wenn ich
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