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Lost Place Vienna (German Edition)

Lost Place Vienna (German Edition)

Titel: Lost Place Vienna (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lost Place Vienna
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und duckte sich
etwas, um ihr dabei unter dem Mützenschirm hinweg in die Augen sehen zu können.
    »Dafür ist die Inszenierung vermutlich etwas spritziger als der
Sekt«, sagte er. »Laut Kritiken soll es ein richtiges Blutbad sein. Über so
viel Effekthascherei habe man allerdings vergessen, die Texte aufzusagen.«
    »Du hast dich ja richtig informiert.«
    »Ich bin gerne vorbereitet, vor allem was Theater angeht«,
antwortete Adler und nippte an dem Sektglas. Es klingelte zum ersten Mal. Adler
ignorierte es und fuhr fort: »Ich liebe das Theater, aber ich meide es, wo ich
nur kann. Das hört sich paradox an, ist aber so. Es gibt kein Stück der
klassischen europäischen Dramatik, das ich nicht eingehend studiert habe. Aber
ich wage es nicht, es mir anzugucken.«
    »Nur weil die Regisseure es nicht vom Blatt spielen?«
    »Nein, weil sie psychologisieren.«
    Valentina musste lachen. »Und das sagst ausgerechnet du?« Es
klingelte zum zweiten Mal.
    »In den modernen und zeitgenössischen Stücken lasse ich es mir
gefallen, die sehe ich mir aber erst recht nicht an. Aber wenn man zum Beispiel
Sophokles’ Antigone auf ein Familiendrama hinunterbricht und die Spieler in
Bert-Hellinger-Aufstellungen auf die Bühne stellt, ist es für mich aus. Man
darf Ödipus nicht psychologisieren, schließlich existierte er vor dem
Ödipuskomplex, verstehst du?«
    Es klingelte zum dritten Mal.
    »Wir müssen rein«, sagte Valentina.
    »Wer behauptet, Antigone sei lediglich eine pubertäre Göre, die aus
Trotz handle, gehört schlichtweg gesteinigt. Es geht in dem Stück um Größeres
als Psychologie. Es geht um Haltung, Werte und Glauben. Und nicht um die Pickel
einer Vierzehnjährigen.«
    Valentina hatte Adler ihr leeres Glas in die Hand gedrückt und war
bereits losgegangen, um in der Loge Platz zu nehmen. Adler stellte die Gläser
ab und eilte schwatzend hinter ihr her.
    Valentina hoffte, dass er sein Plappermaul endlich halten würde,
wenn sich der Vorhang hob. Aber es gab keinen Vorhang. Das Stück hatte bereits
begonnen. Wenigstens schien es so. Sie hatte den Eindruck, als hätten sie den
Anfang verpasst, aber es war wohl Teil der Inszenierung.
    Eine gewaltige Guillotine beherrschte die Bühne. Zwei Henker mit
schwarzen Kapuzen schleiften einen großen Korb, gefüllt mit abgeschnittenen
Köpfen, über die Bühne. Einer der Köpfe purzelte heraus und kullerte an den
Bühnenrand. Der Kopf glich der Fratze eines islamischen Diktators. Einige
Zuschauer kicherten, als sie ihn erkannten, andere riefen sogar »Bravo« und
applaudierten.
    Adler verdrehte die Augen. »Das fängt ja schon geistreich an.«
    Ein Zauberer auf Stelzen kam herein; ein langer dunkelblauer Mantel
mit großen gelben Sternen verdeckte die Beinverlängerungen. Ihm folgte ein
kleiner dicker Assistent, eine riesige genmanipulierte Möhre hinter sich
herschleifend. Der Zauberer blieb neben der Guillotine stehen – sie waren beide
exakt gleich groß – und nickte dem Assistenten zu. Der wuchtete die Möhre auf
die Guillotine und schob ihre Spitze durch das Loch, wo sonst die Hälse der
Reaktionäre steckten. Nun wies der Zauberer seinen Gehilfen an, einen Schritt
zurückzugehen. Eine magische Handbewegung, das Erklingen der »Harry
Potter«-Filmmusik, und das Fallbeil sauste auf die Möhre nieder. Ein saftiges
Knackgeräusch untermalte die Enthauptung der Karotte.
    Vereinzeltes Gelächter im Publikum. Ein schweres Schnaufen von
Adler.
    Der Zauberer gab seinem Assistenten ein Zeichen. Dieser schüttelte
ängstlich den Kopf und schlotterte übertrieben mit den Knien. Auch nach
wiederholter Aufforderung weigerte er sich, seinen Kopf in das Loch der bereits
wieder aufgezogenen Mordmaschine zu stecken.
    »Nun mach endlich, wir wollen, dass das Stück auch irgendwann mal
anfängt!«, schrie Adler. Ihm lag Theater wohl tatsächlich am Herzen.
    Als hätte der Assistent auf Adlers Zuruf gewartet, trottete er zur
Guillotine und ergab sich in sein Schicksal. Im Publikum kamen Raunen und
Gekicher auf. Wer wollte schon glauben, dass ein unschuldiger Tropf nun seinen
Kopf verlieren sollte?
    Die »Harry Potter«-Musik schwoll wieder an, der Zauberer mimte seine
magische Bewegung, und das Fallbeil sauste erneut hinab. Frauen kreischten,
einige Männer lachten, Adler gähnte.
    Der Kopf des Assistenten weilte unversehrt im Loch der Guillotine.
Überrascht von dem Wunder zog er seinen heilen Schädel aus der Todeszone und
begann einen Freudentanz aufzuführen, während der Zauberer

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