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Lost Place Vienna (German Edition)

Lost Place Vienna (German Edition)

Titel: Lost Place Vienna (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lost Place Vienna
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nichts. Wichtig ist,
dass ich ihn gekannt habe. Und es war mehr als nur eine Namensverwandtschaft,
die uns verband. Aber ich konnte das Talent, das er auf der Bühne zeigte, eben
nur im Dunkeln ausleben. Im Souffleurkasten. Ich war der beste Souffleur, den
es gab. Das war noch vor Klingenberg. Ich sprach die Texte so vor, dass die
Spieler sie nur nachzusagen brauchten. Melodie, Rhythmus, Betonung – alles
lieferte ich ihnen perfekt.«
    Er lachte für einen Moment so schrill, dass Valentina erschrak.
    »Verzeihen Sie. Es kam sogar vor, dass Schauspieler, die für eine
Rolle in den Olymp gelobt wurden, im nächsten Stück so grottenschlecht waren,
dass die Zuschauer dachten, sie hätten es mit zwei verschiedenen Menschen zu
tun. Das lag aber nicht an den Darstellern, sondern daran, dass sie im anderen
Stück einen anderen Souffleur hatten, verstehen Sie?«
    Er sah sie eindringlich an. »Das sollten Sie sich merken. Es sind
immer die Souffleure, die den Moment bestimmen. Im Theater wie im Leben. Und
deswegen ist Saint-Just auch die wichtigste Figur in diesem Stück. Er
souffliert, und die anderen spielen in seinem Sinne.«
    Eine leise Melodie ertönte aus der Westentasche seines Wollanzugs.
Er griff hinein. Jetzt war sie deutlicher zu hören. Es war die Marseillaise als
Klingelton eines Handys. Der Alte nahm das Gespräch entgegen, stand auf und zog
mit dem Telefon am Ohr ins Dämmerlicht des Grabens.
    Valentina war froh, dass er keine Taschenuhr aus der Weste gezogen
hatte, sondern einen Gebrauchsgegenstand aus dem Hier und Jetzt. Die moderne
Technik holte sie aus dem 18. Jahrhundert zurück. Sie blickte auf die
große Standuhr, die an der Kreuzung von Kärntnerstraße und Graben die Zeit
anzeigte, und wusste, dass sie sich sputen musste, wollte sie rechtzeitig im
Theater sein.
    Während sie raschen Schrittes über den Graben in Richtung
Burgtheater ging, dachte sie an den alten Souffleur. War es Zufall gewesen,
dass er sie genau in dem Moment angesprochen hatte, als sie zur Rede des
Saint-Just kommen sollte? Wie lange hatte er sie bereits beobachtet? Gehörte er
mit zum Spiel? War er eine Figur aus der Inszenierung des großen
Strippenziehers? Und was hatte es mit Ernst Deutsch auf sich? Und dem »Dritten
Mann«?
    War der nächste Cache etwa im Prater, im alten Riesenrad? Das wäre
wohl zu einfach. Man konnte sich aus allem etwas basteln. Alles wäre in sich
logisch zu konstruieren, aber nicht mit den anderen Fakten verzahnbar. Es wären
Konstrukte, bar jeder Folgerichtigkeit. Aber vielleicht war es gerade das,
womit man ihr den Verstand rauben wollte.
    Der Nebel war da kein guter Freund. Auch er verwässerte und
verschleierte alles, verlockte einen, Gestalten und Formen zu sehen, wo keine
waren.
    Valentina blickte sich um und glaubte, hinter sich jemanden gesehen
zu haben, der ihr bereits länger an den Fersen haftete, nun aber in die dunkle
Flucht einer Haustür gesprungen war. Eine Litfaßsäule verdeckte den Eingang.
Auf der Säule war ein Werbeplakat angebracht: »Wien im Film«. Eine Ausstellung
im Filmhaus am Karlsplatz. Geworben wurde mit dem Konterfei von Orson Welles.
Valentina musste lachen. Harry Lime blickte diesmal nicht aus dem dunklen
Hauseingang, sondern direkt von der Litfaßsäule. Eine Verschiebung von Realität
und Fiktion? Oder eine Verschmelzung? Sie wartete und starrte weiter auf den
dunklen Hauseingang. Vielleicht würde die Katze doch noch heranschleichen und
Harry Lime verraten?
    Es kam keine Katze. Dafür rauschte ein Fiaker vorbei und riss
Valentina mit dem harten Klappern von Hufen auf Kopfstein aus ihrer
Spekulation.
    Jetzt musste sie sich wirklich beeilen. Sie begann zu laufen,
stürzte über den Heldenplatz, rannte rechts hinter dem Volksgarten vorbei und
passierte den Bühneneingang des Burgtheaters, um endlich leicht verschwitzt die
Stufen des Haupteingangs zu erreichen.
    Adler stand mit dem Rücken zu einem Schaukasten und blickte von der
obersten Stufe hinüber auf den Rathausplatz. Er zog an einer Zigarette und
hatte den Kragen eines lässigen Trenchcoats hochgeschlagen. Er sah verdammt gut
aus, stellte Valentina fest. Und sie hatte das Gefühl, dass er im Moment der
Einzige war, dem sie vertrauen durfte.
    Kaum hatte sie es gedacht, wurde sie auch schon misstrauisch. Wieso
sollte sie ihm trauen dürfen? Nur weil sie beide eins mit der Bratpfanne über
den Schädel bekommen hatten und für einen Moment die absolute Finsternis
miteinander geteilt hatten? Wer sagte, dass er hier

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