Lost Place Vienna (German Edition)
Jahrhunderts. In Wien begegnete man oft Menschen, die sich
noch aus dem Kleiderschrank ihrer Großväter bedienten. Valentina glaubte nicht,
dass diese Leute dem Fortschritt und der Mode zum Trotz handelten; es war wohl
vielmehr die Sehnsucht nach ästhetischer Harmonie mit der Stadt, die sie die
alten Fetzen immer wieder frisch aufbügeln ließ.
»Ich kann noch weiter, wenn Sie wollen. Das ganze Stück kann ich
nicht mehr auswendig, aber die großen Stellen schon. Saint-Just ist für mich
noch immer die Essenz des Stückes. So läuft die Welt. Robespierre und Danton
verhandeln Tugend und sündhafte Lust, aber Saint-Just ist ein eiskalter Engel.
Er ist der wahre Killer. Er spricht aus, wie die Mechanismen der Politik zu
greifen haben. Ein Menschenleben ist nichts wert«, sagte der Alte, der mit
seiner rund gefassten silbernen Brille, die ihm auf einer sehr spitzen Nase
locker saß, und dem dichten weißen Haarschopf, der den Vergleich mit einer
Perücke des späten 18. Jahrhunderts nicht zu scheuen brauchte, selbst aussah
wie einer aus dem Club der Jakobiner.
Valentina sah ihn fasziniert an.
»Entschuldigung. Deutsch, Albert Deutsch. Nicht zu verwechseln mit
dem Ernst Deutsch. Sie kennen doch noch Ernst Deutsch?« Er kicherte.
»Vermutlich nicht. Wenn Sie jetzt erst den Büchner lesen, werden Sie auch den
Ernst Deutsch nicht kennen. Er war ein großer Schauspieler, ein sehr großer.
Für mich sogar weit über Oskar Werner. Oskar Werner sagt Ihnen hoffentlich noch
etwas?« Er schielte über den Rand seiner Brille, und Valentina kam sich vor wie
bei einem Verhör, das nur in Freispruch oder unter Guillotine enden konnte.
»Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters«, hob er näselnd
seine Stimme. Dann kicherte er. »Ich war ein guter Oskar-Werner-Imitator. Die
Kantine hat sich immer amüsiert, wenn ich den Werner parodiert habe. Sie wissen
schon, von wem der Satz war, den ich eben gesprochen habe?«
Wieder schwieg Valentina.
»Na, den Reinhardt werden Sie doch wohl kennen. ›Die Rede an die
Schauspieler‹. Wenn nur ein Einziger sie beherzigen würde. Der Werner hat’s
probiert, aber er hat sich dann das Talent aus dem Leib gesoffen. Nur der
Deutsch, der hatte den Reinhardt wirklich in Fleisch und Blut. Und Sie kennen
ihn nicht. Er hat sogar im ›Dritten Mann‹ mitgespielt. Den kennen Sie gewiss.
Der gehört ja mittlerweile zu Wien wie die Mozartkugel.«
Der Mann schüttelte fassungslos seinen weißen Schopf. Ehe Valentina
etwas Entschuldigendes hervorbringen konnte, fixierte er sie wieder wie ein
listiger Rabe und sagte: »Wundern Sie sich denn gar nicht, dass ich wusste,
dass Sie ›Dantons Tod‹ lesen? Immerhin haben Sie Büchners Gesamtausgabe in
Händen. Sie hätten auch ›Woyzeck‹ oder ›Lenz‹ lesen können. Weshalb zitiere ich
ausgerechnet Saint-Just? Genau in dem Augenblick, da Sie ihn gleich selbst
lesen werden?«
Valentina blickte ihn fragend an.
»Schauen Sie in Ihr Buch. Gerade haben Sie Robespierres Rede vor dem
Konvent gelesen. Zweiter Akt, Szene 7. Sie endet mit den Worten: ›Ich
verlange, dass Legendres Vorschlag zurückgewiesen werde.‹ Habe ich recht? Lesen
Sie weiter. Jetzt erheben sich die Deputierten zur Abstimmung. Und dazwischen
funkt Saint-Just. Sehen Sie schon nach. Los!« Der Alte kicherte in ungeduldiger
Vorfreude.
Valentina blickte in das Buch und staunte, als sie die Worte des
Mannes bestätigt fand. Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die
Mundwinkel und räusperte sich.
»Ich war Souffleur am Burgtheater, jahrelang. Da habe ich gelernt,
von den Lippen zu lesen. Die meisten Schauspieler sprechen ihren Text nämlich
schon, bevor sie dran sind. Anstatt den anderen zuzuhören, murmeln sie heimlich
ihre eigenen Textpassagen. Als Souffleur bemerkt man so etwas. Ich war es nicht
hauptberuflich, aber leidenschaftlich. Ich habe das Theater geliebt, war aber
selbst ein miserabler Schauspieler. Sobald ich auf einer Bühne stand, stotterte
ich, verknotete mir die Zunge wie Seemänner ihr Tau und stolperte über das
kleinste Requisit. Ein Fiasko. Zwei Jahre habe ich es versucht, dann habe ich
es aufgegeben. Aber die Leidenschaft für das Theater hat mich nie losgelassen.
Als Zuschauer litt ich, wenn ich die Schauspieler auf der Bühne sah. Ich wollte
den Text mitsprechen, miterleben. Und wie viele Schauspieler gibt es, seien wir
ehrlich, bei denen man miterleben darf? Jetzt sind wir wieder bei Ernst
Deutsch. Nun ja, Sie kennen ihn nicht mehr, das macht auch
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