Lost Place Vienna (German Edition)
handelte. Jetzt zog sie von den
ermittelten Zahlen die Zahl Eins ab, weil Adler erschossen worden und sie am
Ende mit zwei Karten allein zurückgeblieben war. Aber auch das brachte
überhaupt nichts. Sie riet blind umher, und das führte lediglich dazu, dass sie
wieder an Adler denken musste.
Wie gerne hätte sie ihn jetzt neben sich liegen gehabt. Einfach nur
so, wissend, dass er lebte, wieder auf die Beine käme. Die Hand würde sie ihm
halten wollen, mehr nicht. Sie merkte, wie ihr Herz bei dem Gedanken schneller
zu klopfen begann. Im Bauch breitete sich ein seltenes Gefühl von Verliebtheit,
gepaart mit Verlustangst, aus. Ihr Brustbein begann zu schmerzen. Alles zog
sich über dem Herzen zusammen, dann brach es sich in einem Schluchzen Bahn.
Sie versuchte, sich zu beruhigen, schnäuzte sich in ein Bühnentuch,
das über einem abgestellten Requisit hing, und zwang sich zur Vernunft.
Es musste der Text sein, der ihr weiterhalf. Und der Text, der ihr
helfen sollte, war von Büchner geschrieben. Sie kramte in ihrer Jackentasche.
Die Suhrkamp-Ausgabe, die Adler ihr gegeben hatte, steckte noch darin. Sie zog
das kleine Büchlein hervor und hätte gerne darin gelesen, aber es war zu
dunkel. Sie erinnerte sich, dass durch den Schlitz unter dem verschlossenen Tor
von außen etwas Licht in die Halle schimmerte.
Sie erhob sich von ihrem Lager, nahm eines der Kissen mit und
tastete sich wieder zwischen den unbekannten Formen hindurch ans Tor. Das Licht
fiel noch immer ein und schenkte dem Raum einen erhellten Balken am Boden.
Valentina drückte sich dicht an die Tür und stützte die Ellbogen auf
das Polster. Davor schob sie das Textbüchlein. Es passte exakt in den
Lichtbalken. Valentina begann das Stück noch einmal zu lesen. Erst beim
wiederholten Lesen stieß man auf die wesentlichen Dinge. Büchner war keine
Einwegliteratur, er war nicht umsonst ein Klassiker. Gespickt mit
Überraschungen und neuen Erkenntnissen, je nach Verfassung, in der man sich
gerade befand. Und wonach man gerade suchte. Aber wonach suchte sie?
* * *
Parizek schrak hoch. Er hatte nichts geträumt; ein schwarzes
Loch, mehr hatte ihm sein kurzes Nickerchen nicht eingebracht. Jetzt aber
glaubte er sich in einem Science-Fiction-Comic zu befinden, in dem vollbusige
Krankenschwestern das Kommando über einen Planeten übernommen hatten, auf dem
Männer als Sklaven gehalten und nur zum erotischen Nachtverzehr benutzt wurden.
Das Parfüm roch gut, also musste es die Schwester aus dem Fahrstuhl
sein, die den Lärm verursachte. Aber die singende Säge, die aufgeregt an sein
Ohr drang, verriet ihm, dass auch die Kollegin von der Rezeption mit im Raum
war. Eine dritte Frau, nicht minder attraktiv und mit großen, gut sitzenden
Brüsten ausgestattet, flog in den Raum und wurde mit »Frau Doktor« angeschrien.
Frau Doktor, in kurzem weißen Rock und hautfarbenen Strumpfhosen, stob auf
Adlers Bett zu und gab den beiden Drohnen Befehle, die diese umgehend
ausführten. Ehe Parizek auch nur ein Wort sagen konnte, segelte das Krankenbett
samt Besatzung an ihm vorbei und verschwand aus dem Zimmer.
Er setzte sich in dem Sessel auf, rieb sich mit den Knöcheln den
Schlaf aus den Augen und versuchte sich so zu recken, dass ihm sein Rücken den
Gefallen einer leichten Entspannung einredete. Dann stand er auf und verließ
ebenfalls den Raum. Er sah gerade noch, wie die langen Beine der Frau Doktor am
Ende des Ganges eilig um die Ecke bogen, und folgte ihnen.
Vor der Tür mit dem Schild »Intensivstation« war es mit der
Verfolgung vorbei. Hier kam er nicht rein. Da brauchte die Schöne von der
Rezeption noch nicht einmal den Mund zu öffnen, Parizek verstand es auch so,
nickte und setzte sich auf einen bequemen Stuhl, der neben zwei anderen im Gang
stand. Auch der Gang war hier viel schöner als im schnöden AKH . Faksimiles großer Meister zierten die Wände.
Parizek wusste wohl, dass es sich um Kunst handelte, er konnte aber kein
einziges Bild seinem Schöpfer zuordnen. Wären Sonnenblumen darunter gewesen, er
hätte sich einen Punkt holen können. Das war das Gute an van Gogh. Den konnte
man rasch erkennen. Aber schon ob Picasso oder Cézanne, das war für Parizek ein
Ding der Unmöglichkeit. Und Moderne, Postmoderne, gar Zeitgenössisches, da war
es völlig dunkel.
Er musste nicht weiter über seine Unwissenheit nachdenken, weil die
Krankenschwester mit dem wohlriechenden Parfüm auf ihn zukam und ihren rot
geschminkten Kussmund öffnete. Natürlich hätte
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