Lost Place Vienna (German Edition)
Fahrrad parkte oder einen Kinderwagen. Dann krempelte er die Hose
des gekappten Beines hoch und kratzte sich an dem Stumpen, den er in die Sonne
streckte.
»Nur Abgesägte«, murmelte Valentina und stand auf, um einen
Zeitungssack zu suchen, aus der sie ein heutiges Revolverblatt ziehen konnte,
in dem vielleicht etwas über Adler zu lesen stand. Immerhin wurde nicht alle
Tage in der Führerloge jemand niedergeschossen.
Die Zeitungen wussten nichts. Es war noch zu früh. Aber man
widmete ihr erneut ein Fahndungsfoto. Sie war überrascht, dass es nicht das
gestrige Foto aus ihrem Dienstausweis war, sondern eines, das sie so zeigte,
wie sie in der Thalia-Buchhandlung aufgetreten war. Parizek war ihr also auf
den Fersen. Er war besser, als sie gedacht hatte.
Sie legte die Zeitung neben sich auf die Parkbank und sah zu dem
Sandler hinüber, der sich gerade daranmachte, seine Prothese wieder ans Bein zu
schnallen. Es ging schnell. Die Handgriffe waren geübt. Schon stand er auf den
Füßen, packte seinen in drei Tüten gestopften Besitz und hinkte von dannen.
Auch sie kam sich vor, als hinke sie allem hinterher. Eingespannt
zwischen Flucht und Jagd empfand sie nur noch Lähmung. Sie wusste weder vor
noch zurück. Die Welt hatte sie zur mordenden Bestie gemacht, und nur sie
allein wusste um ihre Unschuld. Adler hatte ihr geglaubt, und Ciacci hatte
gewusst, dass es sich um ein Strategiespiel der Mafia handelte. Sollte sie sich
der Polizei ergeben? Der Strippenzieher wusste aber, dass sie sich niemals
stellen würde. Eher würde sie von der Floridsdorfer Brücke in die Donau
springen und im schlammigen Grün des Flusses ersaufen. Und selbst dort würde
sie mit jedem heimtückischen Strudel noch um den nächsten Atemzug ringen.
Vor Wut begann sie die Zeitung zu zerpflücken. Würden sich die
Menschen in der Stadt für andere interessieren, würde jetzt wohl jemand zu ihr
kommen, um sie zu fragen, was mit ihr los sei. Aber es war ihr Glück, dass
jeder genug mit sich selbst zu tun hatte, sodass sie diesen Tobsuchtsanfall
ohne fremde Einmischung überstand.
Blind vor Tränen tastete sie nach den Zeitungsfetzen und zerknüllte
sie zu kleinen Papierbällen, die sie neben sich auf die Bank legte.
Unwillkürlich zählte sie die Bällchen; es waren dreiundzwanzig. Sie zählte oft.
Manchmal waren es Bäume, an denen sie vorüberradelte, dann wieder Treppenstufen
irgendwelcher Gebäude. In den seltensten Fällen zog sie daraus eine Bedeutung.
Wenn sie auf eine Primzahl kam, war es schon etwas Besonderes. Daher war die
Dreiundzwanzig vielleicht nicht irgendeine Zahl. Aber außer dass sie eine
Primzahl war und Verschwörungsfanatiker dahinter einen Mythos entdeckt hatten,
fiel Valentina dazu nichts ein.
Sie nahm Bällchen dreiundzwanzig, entfaltete es und schnäuzte sich
hinein. Als sie es wieder zerknüllen wollte, hielt sie inne und las, was auf
dem Fetzen stand: »Italienischer Markt in der Kalvarienberggasse 20–24. Ab
elf Uhr«.
Valentina schrak hoch. Hastig kramte sie in ihrer Jackentasche nach
dem Büchner-Text. Sie blätterte wild, versuchte, sich an die Stelle zu
erinnern, und fand sie endlich. Robespierre liest den Brief von Camille, der
ihm von Saint-Just übergeben worden ist, nachdem Danton sich mit Robespierre
entzweit hat.
Zeile 20: Er zeigt ihm die Stelle.
Zeilen 21–24: Robespierre liest: »Dieser
Blutmessias Robespierre auf seinem Kalvarienberge zwischen den beiden Schächern
Couthon und Collot, auf dem er opfert und nicht geopfert wird.«
Valentina spürte ihren Herzschlag bis in die Ohren pochen. Sie
versuchte zu schlucken, aber ihre Kehle pappte dabei nur trocken zusammen.
Die Kalvarienberggasse war im siebzehnten Bezirk. Sie hatte dort als
Kind ab und an eine Tante besucht, die ebenfalls aus Sizilien stammte: Zia
Giulia. Sie war Gründerin eines circolo gewesen,
eines italienischen Clubs, in dem man sich am Wochenende traf, um die
gemeinsame Sprache und Kultur zu pflegen. Ob es diese Tante und den circolo in der Kalvarienberggasse noch gab, bezweifelte
Valentina. Aber die Zeitung sagte, dass dort heute ein italienischer Markt
stattfand. Und die Hausnummern stimmten mit den Zeilennummern des
Büchner-Textes überein. Vielleicht waren es diesmal gar keine Koordinaten, die
sie zu ermitteln hatte, sondern der Text sollte sie zum nächsten Cache bringen.
Handelte es sich nicht um einen Bücher-Cache? Waren nicht auch die Fundorte der
abgesägten Frauenköpfe Hinweise auf Bücher gewesen? »Die drei
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