Lost Place Vienna (German Edition)
noch verkraften.
»Wie geht es deiner Mutter?«, begann Alberto das Entree. »Alles klar
zu Hause?«
Claudio nickte lächelnd. »Danke. Sie kocht und backt, als wären wir
noch immer zu zehnt am Tisch.«
Alberto lachte. »Und Enzo wird immer dicker, was?«
Claudios Gesicht trübte sich. Er kramte nach einem silbernen Etui
und klappte es auf. Er bot Alberto, der gerade seine Kippe im Aschenbecher
ausdrückte, eine frische an. Der griff zu und gab Claudio Feuer. Sie zogen ein
paar stumme Züge, ehe Claudio Rauch und Seufzer in einem ausstieß.
»Er ist im Krankenhaus. Krebs. Die Lunge. Die Ärzte sagen, er macht
es nicht mehr lange.«
Alberto inhalierte tief. »Dieser verdammte Krebs. Das ist kein Tod
für einen Mann. Er nimmt dir alles. Die ganze Würde, den Stolz. Wenn ich Krebs
habe, erschieße ich mich.«
Claudio lächelte versonnen. »Das hat Enzo auch immer gesagt. Und
jetzt ist er froh um jeden Tag, den er noch leben darf. Man hängt dann wohl
doch an seinem beschissenen Fetzen Leben.«
Alberto sagte nichts und rauchte. Die Kellnerin brachte die beiden
Espressi. Alberto kippte sich zwei Beutel Zucker hinein, Claudio genügte einer.
Dann rührten sie in den Tassen, ehe sie den Kaffee tranken.
»Sie ist da drüben bei H&M verschwunden. Ich zeig sie dir, wenn sie rauskommt«, sagte Alberto.
»Soll ich nicht reingehen? Vielleicht gibt es einen Hinterausgang.«
»Dafür bräuchte sie eine Angestelltenkarte. Ohne Karte kommst du in
kein Büro und keinen Flur.«
»Und wenn sie eine klaut?«, fragte Claudio.
»Ein Diebstahl würde nur Aufsehen erregen. Wenn sie direkt gejagt
werden würde, dann würde sie sicher so vorgehen, wie du sagst. Aber ihr Puls
ist gerade unten, da riskiert sie so wenig wie möglich.«
»Du bist der Boss.«
»Ich kenne sie.« Albertos Blick versank im Restzucker der
Espressotasse. »Ein wenig zumindest.«
»Und sie kennt dich«, sagte Claudio.
Alberto blickte aus dem Zuckerbrei auf in Claudios blaugrüne Augen.
Er schob die Zunge zwischen Vorderzähne und Oberlippe und nickte. Dann zog er
kräftig an der Filterzigarette und sagte: »Sonst wärst du nicht hier.«
»Ich darf das nicht, das weißt du«, sagte Claudio, und Alberto
wusste, dass es bereits der Einstieg in den Honorar-Poker war.
»Wir tun nur Dinge, die wir nicht dürfen. Schon vergessen?«
»Kommt immer darauf an, unter welchen Gesetzen wir stehen.«
Alberto hatte keine Lust auf ein langes Verhandlungsritual, er war
kein Marokkaner. Claudio aber hatte marokkanische Wurzeln, ihm gefiel das
Feilschen, und er brachte die nötige Zeit mit.
»Wie viel willst du?«, fragte Alberto.
»Democratic price?« , äffte Claudio den
Akzent seiner Vorfahren nach.
Alberto blickte Claudio undurchdringlich an. Er wusste, dass er auf
sein Spiel eingehen musste.
»Fünfzehn«, sagte Claudio.
Alberto nickte. »Last price?«, scherzte
er, ebenfalls in Marokkanisch-Englisch-Slang.
»Die Woche«, sagte Claudio.
Alberto schleuderte die hastig gerauchte Kippe in den Aschenbecher,
während Claudio noch kein einziges Mal abgeascht hatte.
»Fünfzehn, bis der Auftrag erledigt ist.« Seine dunkelbraunen Augen
funkelten. Claudio sollte wissen, dass er ein gejagter Mann wäre, wenn er nicht
einschlug. Er war kein Dummkopf, und er konnte es sich nicht leisten, Alberto
als Gegner zu wissen. Und fünfzehn war verdammt viel für eine kleine Spitzelei.
Claudio streckte Alberto die Hand über den Tisch. »Fair price.«
Alberto schlug ein und blickte durch das Fenster zu H&M hinüber. Eine junge Frau drängte sich in einer
Gruppe Passanten auf den Bürgersteig. Sie trug eine große Einkaufstasche der
Verkaufskette in der rechten Hand. Auf dem Kopf saß eine Ballonmütze, das
Schild tief über die Augen gezogen. Eine sportliche Winterjacke über einer
Röhrenjeans. Alberto erkannte die Stiefel wieder. Und er sah, dass aus der
Einkaufstasche der Gurt eines Rucksackes baumelte.
»Da ist sie«, sagte Alberto, und er konnte die Erregung in seiner
Stimme nicht verbergen. Er blickte zu Claudio. »Mi
raccommando!« , mahnte er ihn zur Wachsamkeit. Claudio nickte, drückte
seine Zigarette neben Albertos zerknautschter aus und verließ die
Segafredo-Bar.
* * *
Valentina blickte im Vorbeigehen in das spiegelnde Schaufenster
einer Parfümerie. Die neuen Klamotten standen ihr gut, und die Mütze war groß
genug, um Kopf und Gesicht zu verstecken. Die blonde Perücke hatte sie in der
Umkleide gelassen, ihr schwarzes Haar unter dem Ballon
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