Lost Place Vienna (German Edition)
hatte. Er wusste nicht, wozu
das gut sein sollte, aber Il Cervello hatte es so angeordnet. Wie die Lage
stand, würde die Blonde heute Abend nicht ins Burgtheater gehen. Darüber war
Alberto ganz froh. Am Ende hätte sie Valentina noch mitgenommen, und er hätte sich
ebenfalls in den Plüsch drücken müssen, um sich irgendeinen langweiligen Mist
anzutun.
Eine junge Frau mit kurzem roten Rock und hellblauen
Wollstrumpfhosen kam aus dem Café, in dem Valentina vor einer Viertelstunde
verschwunden war. Sie hatte einen kurzen blonden Pagenkopf und trug schwarze
Lederstiefel, die matt glänzten. Die Beine konnten sich sehen lassen. Auch die
mit Ziegenfell gefütterte kurze Lederjacke stand der Blonden. Und Alberto hätte
sie nicht wiedererkannt, wenn sie nicht den Armeerucksack geschultert hätte,
den er selbst bei Zirner für sie drapiert hatte.
In angemessenem Abstand verfolgte er Valentina und dachte darüber
nach, ob er es ihr nicht nachmachen und sich ebenfalls äußerlich verändern
sollte. Immerhin war er mit dem Gesicht bereits verbrannt. Später. Jetzt musste
er an ihr ungeschminkt dranbleiben.
* * *
Valentina zerknüllte das Revolverblatt und stopfte es in einen
öffentlichen Mistkübel. »Wenn du Mist machst, geht’s mir gut«, pappte als
Aufkleber auf dem Mülleimer. Da hatte sich die Marketingabteilung der Stadt mal
wieder was Sinniges ausgedacht. Der Spruch hätte auch für Valentinas bisherige
Lebensphilosophie stehen können. Was würde sie als Polizistin tun, wenn die
anderen keinen Mist machten? Worüber würde sie sich definieren, wenn nicht über
die Säuberung rechtlichen Übels? Sie brauchte den gesellschaftlichen Müll
ebenso wie der Kübel, der hier am unteren Ende der Mariahilfer Straße stand und
alles schluckte, was ihm die Passanten in den Rachen stopften. Dass nun ein
Schundblatt mehr hinzugekommen war, würde ihm sicherlich keine Übelkeit
verursachen.
Dafür war Valentina beim Lesen schlecht geworden. Man hatte sie
binnen zweier Tage zu einer Psychopathin gestempelt. Ein ganz besonders
origineller Überschriftenexperte hatte sich sogar die Zeile »Die
Fleischhackerin geht um!« aus dem trockenen Hirn gepresst.
Lange würde sie es nicht mehr schaffen, unentdeckt durch die Straßen
zu laufen. Ihre Verkleidung war nicht schlecht, aber eine völlige Verwandlung
war etwas anderes. Sie würde aus der Stadt verschwinden oder der Öffentlichkeit
die wahren Drahtzieher präsentieren müssen. Sie hatte sich längst für Letzteres
entschieden. Wenn es noch eine freie Entscheidung gab. Wohin sollte sie denn
fliehen? Hier hatte sie wenigstens ihren Auftrag. Hier war sie Mistkübel. Wenn
sie fliehen würde, hätte sie sich zum Mist bekannt.
Nein, sie konnte nicht aufgeben, auch wenn es wider die Vernunft
war. Außerdem hing sie an unsichtbaren Fäden. Etwas zog an ihr und forderte
ihre nächsten Schritte. Es war die Lust an der Jagd, die Gier, Rätsel zu lösen,
das Adrenalin, das die Begegnung mit dem Bösen ausschüttete. Sie musste ihn
treffen, von Angesicht zu Angesicht, und wenn sie dabei draufgehen würde.
Während sie die Mariahilfer Straße hinaufging, musterte sie ihr
Spiegelbild immer wieder in der Reflexion der Schaufenster. Sie gefiel sich mit
den kurzen blonden Haaren und in den trendigen Klamotten Nicolas und schöpfte
Mut. Ihr eigenes Spiegelbild hatte ihr stets Kraft gegeben. Nicht weil sie gut
aussah, sondern weil es ihr so viele Möglichkeiten des Seins versprach. Und
jetzt war sie undercover. Unschuldig gejagt. Einen größeren Kick konnte es für
einen Racheengel gar nicht geben.
Dabei war es nur die Thalia-Buchhandlung, die sie ansteuerte. Sie
fuhr mit der Rolltreppe in den dritten Stock hinauf. Das Regal mit den
Reclam-Heften stand zwischen den Lehrbüchern für Fremdsprachen und
Glücksversprechungen der Buddhisten. Von Büchner waren »Woyzeck« und »Leonce
und Lena« vorhanden. »Dantons Tod« war nicht zu finden.
Sie wandte sich an eine Verkäuferin, die gerade einem Kunden die
Verschweißung eines Festbands entfernte.
»Entschuldigen Sie, ich suche ›Dantons Tod‹.«
»Müssen wir erst bestellen. Die Reclam-Hefte sind gerade vergriffen.
Das ist meistens so, wenn am Burgtheater ein Klassiker gut läuft. Die ganzen
Schulen gehen dann rein und lesen vorher das Stück. Was wichtig ist. Denn sonst
versteht man ja gar nicht, was die da oben auf der Bühne machen.«
Die Verkäuferin sah Valentina über ihre Lesebrille hinweg
eindringlich an. »Wenn Sie ›Danton‹
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