Lost Princesses 02 - Ketten Der Liebe
hatte sich der Wandel viel langsamer vollzogen, begünstigt durch die Stunden, die sie gemeinsam in einem schlecht beleuchteten Keller beim Lesen, Handarbeiten und Reden verbracht hatten?
Was hatte Miss Victorine noch gleich über Lady Northcliff gesagt? Wir verloren sie , als Jermyn sieben Jahre alt war.
Amy vermutete, dass Miss Victorine bewusst eine umständliche Erklärung vermieden hatte, um nicht an einen schmerzvollen Augenblick erinnert zu werden. »Mylord, was ist Ihrer Mutter widerfahren?«
»Als ich sieben war, brannte sie mit unserem Auslandsagenten durch.«
»Was?« Amy schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber eben sagten Sie doch, Ihre Mutter sei so freundlich und liebevoll gewesen und habe Ihren Vater geliebt.«
»Vermutlich habe ich mich in meiner kindlichen Zuneigung blenden lassen.«
»Das kann ich nicht glauben. Sie können sich doch nicht derart geirrt haben.«
»Ach nein? Aber sie ist fort.« Geschickt verbarg Northcliff seinen Schmerz von damals hinter einem unbeteiligten Ton, aber die Leere in seinem Blick vermochte er nicht zu verstecken. »Ich habe bis auf den heutigen Tag nichts mehr von ihr gehört.«
»Das glaube ich einfach nicht!« Amy wollte dieses Ende des Märchens von der schönen, freundlichen und hingebungsvollen Mutter nicht akzeptieren.
»An jenem Tag stritten sich meine Eltern. Ich hatte nie erlebt, dass einer im Beisein des anderen die Stimme erhob, aber damals gab es einen lauten Wortwechsel. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, denn ich lauschte draußen an der Tür, aber ich hörte, dass Vater sehr zornig, abweisend und verletzend war. Mutter setzte sich so feurig und leidenschaftlich zur Wehr, als hinge ihr Leben von ihrer Rechtfertigung ab ... und dann erinnere ich mich, dass sie ihr Pferd holte und die Straße nahm, die zum Hafen führte.« Northcliff erzählte die Geschehnisse mit leiser Stimme und schien selbst nicht ganz zu begreifen, warum er sich Amy gegenüber plötzlich öffnete. Vielleicht hätte sie die Geschichte ohnehin erfahren - Jermyn war sogar erstaunt, dass sie noch nichts von dem Skandal gehört hatte -, aber er hatte noch nie mit jemandem über diese Gefühle gesprochen. Was hatte diese Frau nur an sich, dass er in einem fort redete? »Unser Schiff lag dort vor Anker. Jemand sah, wie meine Mutter mit unserem Auslandsagenten sprach. Schließlich ging er an Bord und nahm sie mit. Dem Kapitän sagten sie, meine Mutter werde wieder von Bord gehen, ehe sie lossegelten. Aber sie kehrte nie nach Hause zurück. Sie verließ mich. Und sie verließ meinen Vater.«
»Das kann ich nicht glauben«, entfuhr es Amy wieder. »Wie kann eine Frau, die ihren Sohn und ihren Mann liebt, einfach so fortgehen, ohne sich noch einmal umzuschauen?«
»Das habe ich mich auch schon tausendmal gefragt. Mir fallen nur zwei mögliche Antworten ein. Sie hat uns nie wirklich geliebt.« Er suchte Amys Blick, als er die zweite Möglichkeit nannte. »Oder alle Frauen sind flatterhaft und untreu.«
Darüber brauchte Amy nicht erst nachzudenken. »So ein Unsinn. Beide Möglichkeiten sind dumm.«
»Wie meinen Sie das, >dumm«
Amy stand inzwischen so nah bei ihm, dass er sie hätte packen können. Und er war bereit, die Situation auszunutzen. Während der sechs Tage seiner Gefangenschaft hatte er unzählige Male die Länge dieser Kette ausgereizt. Er hatte sogar ein kleines Stück Perlstickerei hervorgebracht. Miss Victorine zuliebe hatte er mit diesem Zankteufel höfliche und gesittetete Gespräche geführt. Sogar an die Anweisungen seines Arztes hatte er sich gehalten und die Übungen gemacht - das Bein anheben, den Fuß kreisen lassen und das Knie langsam bis zur Brust ziehen.
Das verfluchte Bein fühlte sich schon besser an, aber Jermyn verlor trotzdem allmählich den Verstand. Seit knapp einer Woche hatte er die Sonne nicht mehr gesehen. Jeden Tag hatte er zwar heißes Wasser für eine Rasur und zum Waschen bekommen, aber nie frische Kleidung anziehen können. Von dem modischen Halstuch hatte er sich getrennt, und er malte sich aus, wie entsetzt seine Freunde wären, wenn sie ihn in diesem verwahrlosten Zustand sähen.
»Schauen Sie sich um. Überall werden Sie Frauen sehen, die ihre Männer und Kinder so sehr lieben, dass sie alles täten, um die Familie zu schützen. Alle Frauen zu verurteilen, weil eine Dame sich schlecht benommen hat, ist töricht.« Amy nahm kein Blatt vor den Mund und machte keine Anstalten, einen verbindlichen Ton anzuschlagen.
»Sie
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