Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
auch eine Entwicklungsverzögerung sein, sagt die Kinderärztin. Dann dauert es einfach nur länger. Mit zwei Jahren krabbeln statt mit sechs Monaten, mit vier Jahren sprechen statt mit zwei.
»Aber sie würde sich normal entwickeln?«
»Das könnte sein, ja, nur langsamer.«
»Warum schaut sie mich nicht an? Warum lächelt sie nie?«
»Da machen Sie sich keine Sorgen. Haben Sie Geduld.«
Eine Odyssee beginnt.
Der Neurologe wurde uns empfohlen. Eine Koryphäe, haben alle gesagt. Eine Kapazität. An der Uniklinik einer großen Stadt klemmen wir uns in einen Aufzug, in den wir mit Kinderwagen nicht gepasst hätten. Die Schwester will vorab Lottas Kopf vermessen, sie dreht ihn immer wieder weg, die Schwester lächelt. »Die kann sich aber schon gut wehren.«
Harry lächelt zurück. »Na, siehst du«, sagt er zu mir.
Der Neurologe untersucht Lotta ohne ein Wort und setzt sich dann hinter seinen Schreibtisch. Wir nehmen davor Platz.
»Wenn Sie Glück haben, ist es halbseitig«, sagt er.
»Halbseitig?«
Er steht hinter seinem Schreibtisch auf und humpelt auf uns zu, Parodie eines Behinderten. Das rechte Knie nach innen gedreht, den Fuß hinterher schleifend, den rechten Arm wie einen Flügel abgeknickt, unter die abgesenkte Schulter gezogen, die Handfläche nach außen gedreht. Den Mund schief. »So.«
So sieht Glück aus? Harry und ich sitzen stumm in unseren Stühlen. Lotta gähnt in meinem Arm.
»Der Muskeltonus ist erhöht«, sagt er. Eine Folge der pränatalen Hirnschädigung. Dass wir unseren Rücken steif machen und die Arme baumeln lassen, ist eine Leistung unseres Gehirns. Wir müssen unsere Muskeln steuern, sie anspannen oder entspannen können, um greifen, krabbeln, laufen zu lernen. Lottas Hirn sendet die falschen Signale an ihre Muskeln. Sie spannt zu stark an. Was genau das für ihre Entwicklung heißt, kann keiner sagen. Wie es heißt, schon: spastische Cerebralparese.
Cerebral – vom Gehirn herrührend.
Parese – Lähmung.
Die Cerebralparese ist die häufigste Art der körperlichen Behinderung bei Kindern. Sie betrifft etwa zwei von tausend lebend geborenen Babys. Die Schädigung von Lottas Gehirn ist leicht zu erklären, bei den meisten Kindern muss man länger nach den Ursachen suchen. Sauerstoffmangel während der Geburt, Alkohol während der Schwangerschaft, eine frühe Herpesinfektion – es gibt viele mögliche Ursachen und viele mögliche Ausprägungsformen, etwa zu geringe oder zu starke Muskelspannung. Lotta habe zu starke, sagt der Neurologe: Spastik. Die Frage ist nur, in welchem Grad.
»Oder es wird beidseitig. Dann macht sie nichts mehr.«
»Nichts?«
»Na ja, nichts, was Sie und ich wichtig finden.«
Zu Hause stehe ich im Flur vor der Holztreppe und schaue hinauf. Sie kommt mir steiler vor als noch heute Morgen. Kann ich die Kindersicherungen schon bald für immer abschrauben? Werde ich nie rufen »Lotta, langsam auf der Treppe«? Werde ich sie immer hinauftragen müssen, auch wenn sie schon zehn oder zwölf ist? Der Gedanke erscheint mir zu absurd, um ihn zu glauben. Ich schaue auf Lotta in meinen Armen, sie schmatzt, sie gähnt, sie ist perfekt. Ich sehe immer noch den Neurologen, der auf uns zu humpelt. Ich kann mein inneres Bild von ihm nicht über mein Bild von Lotta legen. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie aussähe, als Erwachsene, die humpelt, die Arme verzogen, den Mund schief. Ich schaffe es nicht. »Sie ist doch so hübsch«, sage ich zu Harry. Als wäre Schönheit ein Schutz. Als könnte einem nichts passieren, wenn man nur rosige Wangen hat.
Wir wollen eine zweite Meinung. Beim nächsten Neurologen fragen wir: »Wird sie mal im Rollstuhl sitzen?«
»Nein, sicher nicht. Dann wäre sie heute schon wesentlich schlimmer dran. Mit ein bisschen Glück hat die gar nichts.«
Harry schaut mich an und hebt die Augenbrauen.
Eine dritte Meinung: »Oder es wird nur ein steifes Bein. Es gibt auch Behinderte, bei denen nur der Neurologe merkt, dass sie behindert sind.«
»Weiß denn niemand irgendetwas?«, frage ich Harry.
»Such dir einen aus.«
Wird der Verdacht auf eine Behinderung irgendwann zur Gewissheit werden? Und falls ja: Wie stark behindert wird sie sein? Dürfen wir glauben, dass Lotta mit ein bisschen Glück gar nichts hat, oder müssen wir uns auf das Schlimmste einstellen?
Such dir einen aus: Welchem Arzt wollen wir glauben? Ist es eine Frage der Kompetenz – weiß ein Arzt besser Bescheid als ein anderer? Eine Frage der inneren Einstellung –
Weitere Kostenlose Bücher