Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
meldet. »Und deswegen klingeln Sie?«
Der rote Knopf, der eine Schwester herbeiruft – ich lerne, ihn selten zu benutzen. Lieber gehe ich selbst den Gang runter und sehe nach, ob ich jemand finde, der gerade keine Leben rettet.
»Kranke Kinder sind die Pest«, stöhnt ein Pfleger in einer anderen Klinik.
Ein anderer sagt: »Wir wollen helfen, doch wir sind immer die, die stören und Pflaster abreißen.«
»Na, liegt hier das Kind Roth?« Nina steht in der Tür und grinst mich an.
Wir umarmen uns. »Kennst du diesen Spruch auch schon?«
Leon wurde in einer anderen Klinik am Herzen operiert, es ist alles gut gegangen. Stolz zeige ich Lotta vor, die Kabel sind schon weniger geworden.
»Mit der Zimtschnecke alles klar?«, fragt Schwester Claudia vom Eingang. Ich nicke.
»Das ist eine von den guten, oder?«, fragt Nina, als sie weitergegangen ist.
Ich schwärme: Von Dr. Feldkamp und Professor Brassel, die sich Zeit für unsere Fragen nehmen, von Dr. Brevis und seiner Gelassenheit, von Dr. Rech, der beruhigend vor sich hin summt, während er mein Baby untersucht.
»Sind ja nicht alle so«, sagt Nina.
Die schlimmsten Fehler aller Ärzte und Schwestern – wir haben sie schnell zusammen:
Ich: »›Wie geht es ihm denn‹ fragen – wenn das Kind ein Mädchen ist.«
Nina: »Die Vene nicht beim ersten Versuch treffen.«
»Falsch! Die Vene beim fünften Versuch nicht treffen.«
»Mit besorgtem Gesicht hereinkommen und sich in der Tür geirrt haben.«
»Das Kind nicht begrüßen, sondern nur untersuchen wie ein Stück Fleisch.«
»Latein! Und in der Akte unleserlich schreiben – bei der Dosierung der Medikamente.«
»Haben die Leon eine falsche Dosierung gegeben?«
»Sie haben es versucht.«
»Den Eltern eine schlechte Prognose mitteilen und dabei: a) die Tür auflassen, b) andere Patienten mithören lassen, c) mitten im Gespräch ans klingelnde Telefon gehen.«
»Pflaster auf Haare kleben.«
»Von den eigenen Kindern schwärmen. Ich weiß schon, wie schön ein gesundes Kind ist ...«
Nina unterbricht mich: » ... und wir wollen es jetzt gerade trotzdem nicht hören.«
Wir lachen.
»Mensch, ist die hübsch!«, sagt Nina und betrachtet Lotta in ihrem Bettchen. Sie hat die Augen geöffnet, unter ihren Arm habe ich ein Kuscheltier geklemmt. Der Pfleger Matthias aus Köln hatte recht. Ich sehe die Kabel schon jetzt nicht mehr. Die Frühchen in ihren Glaskästen – jetzt finde ich sie rührend.
Ninas Besuch ist eine wohltuende Ausnahme. Die Solidarität zwischen den Bewohnern der Geburtenstation – auf der Kinderintensiv fehlt die Zeit dafür. Jede Mutter sitzt alleine in ihrem Zimmer, mit dem Rücken zur Tür, mit den Augen auf der zuckenden Kurve des Monitors. Wir sehen uns, denn unsere Zimmer haben keine durchgehenden Wände, sondern große Glasfenster. Wir nicken uns zu, wir lächeln, wenn wir uns nachts auf dem Flur begegnen. Doch wir haben keine Zeit, lang zu reden, uns gegenseitig zu trösten. Wir müssen jemand anderen trösten, wir müssen singen, den Monitor im Auge behalten, nach Schmerzmitteln verlangen, den Kopf halten, wenn sich das Kind wieder übergibt, und wenn das Kind endlich schläft, ebenfalls ruhen. Wir leben isoliert in einer Welt ohne Handyempfang, einer Welt, in der es niemals ganz dunkel wird, niemals still, in der immer Geräte piepen und Alarme bimmeln. Eine Welt, die sich nach den »Pflegerunden« der Schwestern richtet. Alle vier Stunden, wenn die Kinder noch Babys sind: wickeln, füttern, Fieber messen.
Wir werden angelernt. So wickelt man ein Kind mit Blasenkatheter. Hier streicheln, um die Atmung anzuregen, wenn der Sauerstoffgehalt im Blut knapp wird. Bald kann ich einen Fehlalarm von einem echten unterscheiden, kann einen Sauerstoffsensor selber wechseln. Was ich verstehe, verliert seinen Schrecken. Die Schwestern schicken mich raus, sie wollen den Hüftverband entfernen und den Blasenkatheter ziehen. Ich stehe vor der Tür zur Toilette, höre Lotta weinen und kehre wieder um. Ich härte mich ab. Ich will bei ihr bleiben.
Bens erste Nasentropfen waren eine fünfminütige Tortur für uns beide. Bei Lotta lerne ich, nicht zurückzuzucken, wenn die Schwester mit der Nadel am Kopf Blut abnimmt. Sie festzuhalten, wenn sie sich windet und den Kopf nach hinten drückt. Zu sagen: »Ist gleich vorbei, Spatz!« Eines Tages kommt Harry ins Krankenhaus und findet an meiner Stelle eine Fremde in blauer Schwesternkleidung vor. All meine Sachen waren voll gespuckt. »Schwester
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