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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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glaubt einer vielleicht noch an die Rettung selbst des aussichtlosesten Falls? Eine Frage der juristischen Absicherung, wie Harry meint: »Wenn es besser kommt, freuen wir uns. Und wenn es schlimm kommt, können wir ihn nicht verklagen«?
    Wir wissen nichts. Wir sind allein.
    »Vorhersagen sind nicht möglich«, sagt der Kinderarzt Feldkamp, als ich ihn anrufe. Zu den Diagnosen der anderen sagt er nur: »Ich weigere mich, solche Kinder zu früh abzuschreiben.«
    Ich wollte etwas anderes hören. Ich wollte hören, das wird schon, Frau Roth. Er sagt nicht, was er sagen soll. Er kann uns nicht helfen.

    »Ihr Kind ist eine Wundertüte«, sagt mir ein Arzt.
    Wundertüte, das klingt nach Brausepulver und Knallerbsen. Kinderglück. Ich lächele, Lotta in meinen Armen. »Klingt doch schön.«
    »Na ja«, sagt er und zögert. »Wann haben Sie das letzte Mal eine Wundertüte ausgepackt? Da ist immer auch Kram drin, den Sie nie haben wollten.«
    Wird Lotta laufen können? Reden? Lächeln?
    »Man weiß nie, was drin ist«, sagt der Arzt.
    Beim Abendbrot. Ich schmiere Ben ein Brot und erzähle Harry von dem Gespräch. Ben unterbricht uns: »Wie die Spinne.«
    »Spinne?«, fragt Harry.
    »Die fand Mama eklig. Die wollte sie wegschmeißen.« Ben steht auf und läuft zu seiner Spielzeugkiste.
    Harry: »Wie kommt er jetzt darauf?«
    »Oles Geburtstagsparty. Die Tüte mit den Gastgeschenken.«
    Ben kommt mit ausgestreckter Hand zurück. Die Spinne: aus Gummi, gelb, groß wie eine Kinderhand und nach Chemie stinkend.
    »Die ist ja wirklich eklig«, sagt Harry.
    »Nein«, sagt Ben und drückt sie an sich. »Ich find die toll.«

    Neue MRT-Bilder von Lottas Gehirn. »Dort sieht man, wie ihr Hirn gelitten hat«, erklärt der Neurologe und deutet auf einen dunklen Bereich. »Da ist nichts.« Wo schon während der Schwangerschaft nicht genügend sauerstoffreiches Blut hinkam, hat sich das Gehirn nach der Geburt nicht entwickelt. Vor allem die rechte Seite hat deutlich gelitten. Deshalb ist Lottas linkes Bein steifer als das rechte. Viel mehr kann er nicht sagen.
    Wie wenig man über das Gehirn weiß. Wir können Fotos vom Mars machen, aber wir können nicht beurteilen, welche Folgen eine Schädigung unseres Kopfes hat. Was wird Lotta aus dem machen, was sie an Hirnmasse hat? Was kann das Gehirn kompensieren? Was nicht? Manchmal übernehmen gesunde Hirnbereiche die Funktionen derer, die pränatal geschädigt wurden. Das Gehirn ist kein starres System, das macht es so schwer zu greifen. Es erschafft neue Verknüpfungen, es passt sich an, es ist ein Mysterium. Was geschieht, wenn man wie Brassel immer wieder in dieses System eingreift? Wenn Bereiche, die vorher unterversorgt waren, plötzlich mit sauerstoffreichem Blut überschwemmt werden? Unser Kopf scheint schwerer zu erforschen zu sein als der Weltraum. Lotta ist auf einer Rakete unterwegs ins All, und wir wissen nicht, ob ihre Mission erfolgreich sein wird.
    »Sagen Sie bloß den Nachbarn nichts«, sagt eine Ärztin. »So ein Stigma wird ein Kind nie wieder los.«
    »Spasti, Spasti!« höre ich die Nachbarsjungen aus meiner Kindheit schreien, hinter einem Jungen her, der nicht behindert war, nur etwas langsam. Der Einzige in unserer Straße, der nur mit seiner Mutter zusammenlebte und am liebsten im Wald Vögel beobachtete. »Spasti!«
    Wir kleben ihr kein Etikett auf, sagen wir uns. Es ist ja nur ein »Verdacht«. Vielleicht ist es ja nur eine »Entwicklungsverzögerung«. Vielleicht wird es ja nur ein steifes Bein. Vielleicht sieht es ja keiner. Vielleicht wird noch alles gut.

    Wir sitzen in der Eisdiele. Ben mit dem Rücken zum Fernseher in der Ecke. Er verrenkt sich den Hals, um trotzdem die stummen Musikvideos sehen zu können. Lotta auf meinem Schoß. »Oh, die ist aber süß«, hören wir von der älteren Dame neben uns. »Die ist gerade erst geboren, oder?«
    »Unsere Kleine«, sage ich. Eine Antwort, die keine ist. Lotta kann den Kopf nicht halten, sie ballt ihre Hände zu Fäusten. Sie hält ihren Körper, als wäre sie erst wenige Wochen auf dieser Welt. Sie ist fünf Monate alt.
    Ich verkleide sie als Winzling. Ben habe ich schon mit vier Monaten die ersten Jeans angezogen, Lotta lasse ich im Strampler. Unter dem Kinderwagenverdeck sehen alle Babys gleich aus. Ich fürchte die Frage: »Wie alt ist sie denn?« Ich gehe nicht mehr auf den Spielplatz. Ich habe zu viel zu tun für Verabredungen. »Ein andermal, ja?« Wenn auf der Straße jemand fragt: »Zieht sie sich schon

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