Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Sandra«, sagt Harry und grinst.
Abends beim Blick in den Spiegel auf der Gästetoilette finde ich das nicht mehr schmeichelhaft. Bin das noch ich? Nicht nur die Schwesternkleidung passt mir nicht, auch die Rolle ist mir zu groß. Ab morgen werde ich Harrys Angebot annehmen, werde ihn allein bei Lotta lassen und in Ruhe einen Kaffee trinken gehen. Ab morgen werde ich nicht mehr assistieren. Ich will Lotta nicht mehr festhalten. Schwestern hat meine Tochter mehr als genug – Mutter hat sie nur eine.
Harry bringt Ben mit ins Krankenhaus. Übergabe an der Schleusentür zur Intensiv. Harry läuft weiter zu Lottas Zimmer, ich strecke die Arme aus und drücke Ben so lange, bis er sagt: »Loslassen.« Ich habe frei. Wir spielen Normalität. Ben und seine Mama beim Pommes-Essen in der Cafeteria, Ben und seine Mama auf dem Spielschiff im Hof, Ben und seine Mama stecken Geld in den Automaten in der Wartehalle und schauen der elektrischen Eisenbahn zu. Wir können uns nicht aufteilen: hier die kranke Hälfte der Familie, dort die gesunde. Wir müssen auch mal tauschen. Ich würde sonst nicht durchhalten.
Als wir entlassen werden, blinzeln Lotta und ich in die Sonne. Die Heimfahrt auf der A3, die erste Nacht zu Hause, Lotta neben mir im Beistellbett, die erste Dusche im eigenen Bad. Alltäglichkeiten, die eine Siegesfeier wert sind. Nachts alle drei atmen zu hören, nur ich liege wach und schwebe heimlich unter der Zimmerdecke. Am nächsten Morgen beim Spaziergang federnder Gang hinter dem Kinderwagen, Grinsen. Was für ein Tag, was für eine Freude, hier zu sein, auf diesem Bürgersteig auf dem Weg zum Spielplatz. Ich wirbele Ben hoch in die Luft, dass er kreischt vor Freude. »Herrje«, sagt Melanie, als wir sie treffen. »Hast du gute Laune. Man könnte glauben, du kämst aus dem Urlaub.«
Wir sind gerettet. Wir sind unverwundbar. So müssen sich Seiltänzer fühlen, wenn sie sicher auf der anderen Seite angekommen sind. Runter und hoch, runter und hoch.
Jede Embo könnte die letzte sein, nach jeder hören wir, sie war es nicht. Immer bleiben Zuflüsse übrig, sie sind zu zahlreich, um sie alle auf einmal zu verschließen. »Am liebsten würde ich Ihre Tochter so lange auf dem Tisch behalten, bis alles verschlossen ist«, sagt Brassel. »Aber das geht leider nicht.« Es würde zu lange dauern, man müsste zu viel Kontrastmittel für die Röntgenbilder spritzen, und die Belastung für Lottas Körper wäre zu stark. Wenn der übliche Weg verstopft ist, weicht das Blut auf andere Adern aus. Zu viele verstopfte Wege, zu viel ausweichendes Blut – und andere Adern könnten unter dem plötzlichen Ansturm platzen. Langsam. Vorsichtig. Zufluss für Zufluss.
Runter und hoch. Runter und hoch. Sieben Mal in zweieinhalb Jahren. Wir tanzen zu viert auf einem sehr dünnen Seil.
7
»Ihr Kind ist eine Wundertüte«
Ein Verdacht, ein Geheimnis und viele neue Wörter
Dreißig Grad Lufttemperatur. Zehn Babys zwischen zwei und fünf Monaten. Zehn Frauen auf Yogamatten, schweißgebadet. Babymassagekurs.
In der Klinik haben Nina und ich sie eingeteilt, in Unten-rum- und Oben-raus-Mütter. Die einen schieben sich ihr Kind unter das T-Shirt, die anderen ziehen ihren Ausschnitt runter und lassen demonstrativ alle Welt teilhaben. Schaut mal, ich stille. Schmeckt’s, Schatz?
Nina und ich waren nach der Geburt weder noch. Wir waren Sonden-Mütter. Abpumpen und mit der Spritze durch einen Schlauch in der Nase ab in den Magen. Die Klebebänder, um die Sonden zu befestigen, haben die Schwestern in Herzform ausgeschnitten. »Sieht nicht so grausam aus«, hat Schwester Stefanie gesagt. »Ist doch süß, oder?« Ich höre immer noch das quietschende Sauggeräusch der elektrischen Milchpumpe.
Ich schaue mich um. »Die habe ich aus London mitgebracht«, sagt eine Mutter zur anderen, beide betrachten eine Wickeltasche. »Selbst bestickt«, sagt eine andere und hält ein winziges T-Shirt mit dem glitzernden Namenszug »Jolanda« hoch. Die Mutter neben ihr fragt besorgt: »Ab wann darf man Joghurt geben?«
Ich werde die Sonden für mich behalten. Untenrum, obenraus, Ende. Etwas Drittes gibt es nicht. Kurz stelle ich mir Nina vor, ein quietschblauer Spritzer in einer kamelfarbenen Front.
Ich ziehe Lotta den Body aus und sie beginnt zu schreien. Melanie hat Noah schon vor sich auf dem Handtuch liegen. Wie schnell der strampelt. Ich schaue mich um. Die strampeln alle sehr schnell. Ein Baby liegt auf dem Bauch, stemmt die Unterarme in den Boden,
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