Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
hebt den Kopf und strahlt mich an. Angeber, denke ich.
Lotta schreit. Ich nehme sie hoch und wiege sie in meinen Armen. Sie macht sich steif, drückt den Kopf gegen meinen Arm, bäumt sich auf. Ich stehe auf, marschiere auf und ab. Die Leiterin des Kurses stellt sich vor, sie nickt mir zu – ich höre sie nicht. Ich laufe mit Lotta. Melanie zuckt mit den Schultern und schickt mir ein Lächeln.
An den Wänden hängen Spiegel vom Boden bis zur Decke. Nach unserem Kurs findet »Tänzerische Früherziehung« statt. In einer Stunde werden sich kleine Mädchen in rosa Tutus in den Raum drängeln. Als Melanie und ich noch mit Ben und Luca hier waren, haben wir immer über die Pampers-Popos unter den Spitzenröckchen gelächelt. »Aber schön wäre das schon, oder?«, hat Melanie damals gesagt. Und gerade auf dem Weg hierhin: »Bald hast du eine kleine Ballerina.«
Lotta brüllt jetzt. Im Spiegel sehe ich ihr rotes Gesicht über meiner Schulter. Mir kleben die Haare an der Stirn, ich bin ebenfalls rot im Gesicht. Kurze blonde Haare, noch der Rest vom Babybauch auf den Rippen, versteckt unter einer weißen Bluse, die ich heute Morgen lange gesucht habe. Jetzt ist sie verschwitzt. Mein Spiegelbild gefällt mir nicht. Hinter mir sehe ich Melanie herüberblicken, ich versuche Lottas Aufmerksamkeit auf den Spiegel zu lenken. Das war bei Ben der Notausgang. Die Rettung bei jeder Art von Wut- und Schreianfall. »Schhhhh!«, sage ich. »Schau mal, Lotta!« Ich klopfe an den Spiegel. Sie ignoriert mich und brüllt, brüllt, brüllt. Die anderen machen jetzt die ersten Streicheleinheiten. Erst die Arme, dann die Beine, jeder Zeh einzeln. Ich setze mich dazu und fange an. Ablenken, denke ich. Erst die Arme, dann die Beine ... Kreischen zwei Tonlagen höher. Ich stehe wieder auf, wiege, schuckele, schhhhhhhh! Auf und ab, auf und ab.
Schließlich kommt die Gruppenleiterin zu mir und sagt: »Wollen Sie mal kurz rausgehen? Vielleicht mag sie das lieber. Und wir könnten mal in Ruhe ein Lied singen.«
Ich ziehe Lotta an, packe meine Sachen und gehe. Ich kündige unser Happy End.
»Wie war’s denn?«, fragt Harry abends, wir zwei auf dem Sofa. Ich erzähle vom Schreien und Brüllen, von der Leiterin. In meinem Kopf strampeln immer noch die anderen Babys, rasend schnell, wie aufgezogen. Ich erwähne sie nicht.
An der Wand unserer Kinderärztin hängt ein schwarz-weißes Plakat: »Lagereaktionen nach Vojta«. Darauf Fotos von nackten Babys. An den Händen aus der Rückenlage hochgezogen, an den Fußgelenken gehalten kopfüber hängend, am rechten Hand- und Fußgelenk gehalten, der Rest baumelnd in der Luft. Unterteilt in Entwicklungsperioden: 1., 2., 3. und 4. Trimenon. Bei jeder hält sich das Baby etwas anders in der ungewohnten Position. Die Fotos markieren Meilensteine in der motorischen Entwicklung, Fixpunkte, die altersgerecht erreicht werden sollten und eingetragen in ein A5-großes, gelbes Heft. Die Vorsorgeuntersuchungen – »Die U’s«.
»Weißt du noch?«, frage ich Harry beim Frühstück. »Bei Ben warst du bei jeder U dabei. Und jetzt ...«
»Lotta hat so viele Arzttermine, da müsste ich kündigen, wenn ich überall dabei sein wollte.«
Ich schaue ihn an. »Das sollte kein Vorwurf sein. Das schaffe ich schon alleine.«
Bei Ben habe ich mich erschreckt, als die Kinderärztin ihn plötzlich nackt kopfüber baumeln ließ. Bei Lotta bin ich vorbereitet. »Da habe ich schon Schlimmeres gesehen«, sage ich. »Machen Sie nur.«
Unsere Kinderärztin packt Lottas Fußgelenke und zieht sie daran hoch in die Luft. Sie schweigt.
Die Stille ist es, die die Ärzte verrät. Solange sie reden, ist alles gut. Einige wenige sagen schon während der Untersuchung: »Das sieht gut aus.« Die meisten warten mit der Diagnose bis danach. Doch solange sie über ihren Urlaub reden, über das Wetter oder die Gesundheitsreform – so lange sind wir in Sicherheit. Ich übe mich in Small Talk. Sobald wir ein Arztzimmer betreten, beginne ich zu quatschen. Fahren Sie bald in Urlaub? Wohin? Ist das Wetter heute nicht viel zu kalt für Mai, Juni, Juli, August? Sobald die Ärzte verstummen, werde ich unruhig. Sobald sie verstummen, haben sie etwas zu sagen, das ich nicht hören will.
Harry am Telefon, er fragt: »Ist es dringend?« Er ist im Büro.
»Die U«, sage ich.
Verdacht auf cerebrale Bewegungsstörung. Cerebral – vom Gehirn her rührend. Bewegungsstörung – körperliche Behinderung. Verdacht – was heißt Verdacht?
Es könnte
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