Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
hoch?«, sage ich: »Jeder hat sein eigenes Tempo«, und wechsele das Thema.
Ich marschiere durch den Stadtwald, fast täglich. Ben rast vorneweg auf seinem Laufrad, ich hinterher mit dem Kinderwagen. Einmal kommt uns eine Gruppe entgegen, wir weichen an den Wegesrand aus. Etwa zwanzig Mütter mit Kinderwagen oder Baby im Tragetuch. Sie marschieren in Zweier- und Dreierreihen und tragen Turnschuhe. Jede hält eine Hantel in einer Hand, pink und klein. Die Mütter schwingen sie hoch und runter, hoch und runter. Stechschritt. »Und jetzt die andere Seite«, ruft die Frau, die vorneweg marschiert. Die Mütter nehmen die Gewichte in die andere Hand. Sie quatschen und strahlen. Sie schwingen ihre Arme hoch und runter, im Takt ihrer Schritte. Sie scheinen ihre Welt so fest im Griff zu haben wie ihre Hanteln. Sie ziehen an mir vorüber, als gehörten sie zu einer anderen Spezies.
Dem Großvater erklären wir bei Kaffee und Kuchen das Wort Entwicklungsverzögerung: »Sie wird wohl erst mit drei Jahren laufen lernen statt mit einem.« Vielleicht erlebt er das gar nicht mehr, hat Harry vorher gesagt. Lass uns sein Herz schonen.
»Du machst das schon«, sagt Großvater zu Lotta. »Du wirst uns noch alle überraschen.« Und zu uns: »Ihr werdet schon sehen.«
Das wird schon. Das kann doch nicht sein. Nun wartet doch erst mal ab. Wem wir zögernd davon erzählen, dass Lotta wohl sehr viel länger für alles brauchen wird, der beruhigt uns. Als ich Melanie sage, dass Lotta wahrscheinlich »entwicklungsverzögert« ist, antwortet sie: »Laufen lernen sie alle«.
»Nicht …«, sage ich nach einer langen Pause. »Nicht alle.«
»Ach, Quatsch.« Sie lacht. »Wie bist du denn drauf?«
Warum fragt keiner nach? Sind wir so überzeugend bei unserem Versteckspiel? Wollen die anderen nicht mehr hören? Spüren sie den Schrecken, der sich hinter meinen Andeutungen verbirgt? Es ist, als hielte ich einen großen schwarzen Hund an der Leine, der zerrt und bellt, und wir alle tun, als könnten wir ihn nicht sehen.
Die Worte »Verdacht auf cerebrale Bewegungsstörung« bleiben ein Geheimnis. Wenn Lotta ihre Beine kerzengerade durchdrückt statt zu strampeln, wenn sie ihre Fäuste nicht öffnet, sondern so stark zusammenpresst, dass ihre Fingernägel kleine rote Halbmonde in die Handinnenflächen bohren – dann schaut Harry mich an und wir haben beide den gleichen Gedanken, den wir nicht aussprechen. Wir verstummen. Unser Geheimnis ist keines, das Gemeinschaft stiftet oder uns zusammenschweißt. Es drängt sich zwischen uns und steht dort wie ein unsichtbarer Dritter.
Wir klammern uns an die Hoffnung und sammeln Videobeweise. Lotta, wie sie im Laufstall liegt und strampelt. Ihre Beine in Großaufnahme. Linker Fuß hoch, runter, rechter Fuß hoch, runter. Wie sie den Kopf dreht, zur einen Seite, zur anderen. Wir spielen die Videos den Neurologen vor. »Macht sie das nicht toll? Spricht das nicht für eine reine Entwicklungsverzögerung?« Wir suchen nach den Vorzeichen, die für eine schöne Zukunft sprechen.
Im Internet gebe ich in die Suchmaske »Cerebrale Bewegungsstörung« ein. Ich suche nach Büchern, ich will keine Internetquellen. Wenn sich schon die Ärzte widersprechen, was soll mir da das Internet helfen? Bei einem Buch bleibe ich hängen. In der Inhaltsangabe steht etwas von »praktischer Hilfe«, »Spielen« und »Fördern«. Ich bestelle das Buch.
Als ich es aus dem Briefkasten nehme, in braune Pappe verpackt, kommt Frau Girschke vorbei. »Hallo!«, grüßt sie rüber. Ich winke, rufe »Die Kleine weint« und eile hinein. In der Küche lege ich das braune Päckchen unter den Stapel der Zeitung von heute.
Erst abends packe ich aus. Harry schaut die Nachrichten, die Kinder schlafen. Das Buch ist grün. Schon auf dem Titel springt mir ein Bild entgegen, ein Kind, den Kopf zur Seite verdreht, die Arme seltsam steif in der Luft. Es liegt auf einer Art großer Wiege. Ich blättere das Buch durch. Kinder in Schwarz-Weiß, so schwer behindert, dass ich nicht wage hinzuschauen. Einige lächeln, aber für mich sind sie noch schrecklicher als der humpelnde Neurologe.
»Was hast du denn da?«, fragt Harry vom Sofa.
»Nichts.« Ich klappe das Buch zu.
Später gehe ich doch hin und halte ihm es stumm entgegen. Er blättert durch und schaut mich schweigend an. Ist das unsere Zukunft?
»Kurz nach der Geburt«, werde ich Feldkamp später vorwerfen, »hat niemand von Behinderung gesprochen. Es hat uns niemand gewarnt.«
»Sie
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