Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
wollten es nicht hören«, wird er sagen. »Sie haben so lange gefragt, bis ein Arzt gesagt hat, was Sie hören wollten.«
Zwei Jahre – das ist eine erste Schallgrenze. In diesem Alter können die meisten Kinder laufen und reden. In diesem Alter ist die Reifung der grundlegenden Hirnstrukturen abgeschlossen. In diesem Alter werden wir mehr darüber wissen, ob Lotta nur ein steifes Bein davontragen wird. Noch fast eineinhalb Jahre warten. So lange hoffen. So lange nicht wissen, was kommt.
Das Buch verstecke ich ganz hinten im Bücherregal. Ich will nicht, dass Ben es findet und Fragen stellt. Ich verstecke es so gründlich, dass ich es nie mehr wiederfinden werde. Das Wort »Behinderung« nehmen wir lange nicht in den Mund. »Das B-Wort«, sagt Harry. Als brächte es Unglück, es auszusprechen. Als würde es wahr, sobald es den Mund verlässt.
8
»Warum wir?«
Ein Wort verfolgt uns
Wir fliehen. Holland, Zeeland. Meine Mutter hat hier ein Ferienhaus, pinke Hortensien und blühender Lavendel im Garten, unsere alten Gummistiefel im Schuppen neben den Fahrrädern. Es ist Mai 2010 und so heiß wie im Sommer. Nachts können wir durch die geöffneten Fenster das Meer rauschen hören. Ben kriegt Sommersprossen. Er ist jetzt drei. »Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst ...« , singt er für Lotta.
Sie lächelt nicht. Sie schaut ihn nicht an. Wir versuchen, keine Videos mehr von ihrem Strampeln zu machen. Sie sieht immer noch hübsch aus, jünger als sie ist. »Wie eine Puppe«, sagt Ben. »Meine Puppe.« Lotta ist knapp ein halbes Jahr alt und hat den Spitznamen, den ich nie wollte. Es ist nicht Elmar geworden. »Püppschen«, sagt Ben, in rheinischem Singsang.
»Püppschen«, sagt Harry und bald auch ich.
Wir legen Lotta auf eine Decke im Garten und trinken selbst gemachten Eistee. Wir lassen Ben nackt herumrennen und gewöhnen ihm die Windeln ab. Wir gehen mit dem Kinderwagen oben am Deich entlang, zwischen blühenden Hagebuttenhecken, hören nur das Dünengras im Wind und die Wellen unten am Strand. Wenn Lotta schreit, und das tut sie oft, binde ich mir das Tragetuch um und gehe mit ihr in der Brandung spazieren. An einem heißen Tag tauchen wir Lottas nackte Füße ins Meer, sie lässt einen Schrei los, der noch die Möwen übertönt. Reflexartig zieht sie ihre Füße abwechselnd an sich, raus aus dem kalten Wasser. »Sie kann laufen!«, schreit Ben. »Guck mal, Papa, Lotta kann laufen!«
Als er später in ein Handtuch gemummelt im Sand sitzt und den Wellen zuschaut, setze ich mich neben ihn. »Weißt du, nicht alle Kinder lernen laufen.«
Ben legt den Kopf schief. »Du flunkerst.«
Ich schüttele den Kopf.
Er lacht. »Dann muss die immer einer tragen.«
»Nein, die kriegen einen Rollstuhl, einen Stuhl mit Rollen drunter, und werden geschoben.«
»Oh Mann.« Er schüttelt das Handtuch ab. »Darf ich auch einen?«
Im Ferienhaus packt er mein Portemonnaie aus, mustert meinen Führerschein und findet ein Foto aus meiner Kindheit. Ich und mein Bruder, blonde Haare, blaue Augen, auf einer Bank in der Sonne. Beide mit schokoverschmierten Mündern, lachend, ich halte einen Löffel, um ihn mit Pudding zu füttern. Er ist ungefähr zwei Jahre alt, ich vier. Wir tragen die gleichen blau-weiß geringelten T-Shirts. Meine Mutter hat mir ähnliche für Lotta und Ben geschenkt.
»Wer ist das?«
»Ich, als ich klein war. Und mein Bruder.«
»Wie ich und Lotta.« Er wendet sich zu ihr: »Wenn du groß bist, machen wir das auch, Lotta!« Er strahlt sie an.
Ich wollte immer zwei Kinder. Ich wollte, dass Ben jemanden hat, mit dem er nachts heimlich wach bleiben, die Blumen im Garten abschneiden und sich gegen uns Eltern verschwören kann. Und jetzt? Was wird Lotta für eine Schwester werden? Wird er sich später mit ihr streiten können? Wird er immer auf sie Rücksicht nehmen müssen?
Das B-Wort sprechen wir immer noch nicht aus.
»Schau mal«, sagt Harry eines Tages am Strand. »Wir werden verfolgt.«
Ein Paar schiebt einen Rollstuhl über den schmalen Bohlenweg, der an den Dünen entlangführt. Immer wieder rutscht ein Reifen von den Bohlen runter in den Sand, dann ziehen beide gemeinsam an den Griffen. Darauf festgeschnallt ein etwa zehnjähriger Junge. Die Hände rudern in der Luft, der Kopf ist nach oben zur Sonne verdreht, Sabber in Strömen. Wir starren hin. »Schau dir die Eltern an«, sagt Harry. »So selbstbewusst.«
Bis er das sagte, waren sie für mich unsichtbar.
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