Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
klirrend kalt, doch wir verhalten uns, als wäre Mai. Tag für Tag, nach der Arbeit, marschieren wir los. Wir laufen nebeneinander, doch mit jedem Schritt gehen wir weiter aufeinander zu. Um uns herum rempeln die Menschen, die Taxis hupen, wir laufen durch die Stadt wie die Schlafwandler. Harry verliert in diesen Wochen zwei Mützen und einen Handschuh, ich fange mir eine schwere Grippe ein. Jahre später noch reichen fünf Wörter für den alten Zauber: »Weißt du noch, New York?«
Jetzt steht die Stadt für alles, was ich nicht kann. Mein Leben, das ist: Krankenhaus, Embos, Physio, Logopädie, Sehfrühförderung. Wir haben mit Brei angefangen. Es ist nicht leicht, ein Kind zu füttern, das den Kopf nicht halten kann und den Löffel nicht kommen sieht. Lotta hat dazu noch Schwierigkeiten mit dem Schlucken. Oft spuckt sie am Ende alles wieder aus. Ich füttere jeden Tag zwei Stunden lang. »Und noch ein Löffel ...« Ich bin angekettet, Harry ist frei und kann wegfliegen.
Er sagt: »Komm doch mit!«
»Klar. Mit einem Kind, das schon zu Hause schreit vor Reizüberflutung, nach New York City fliegen ... Super Idee.«
»Bist du etwa sauer?«
Ja. Nein. Natürlich nicht.
»Willst du, dass ich absage?«
Ja. Nein. Natürlich nicht.
»Du musst fahren. Würde ich ja auch.«
»Komm doch mit.« Er klingt traurig.
»Du arbeitest doch die ganze Zeit. Da kann ich ja gleich alleine fahren.«
Zwischen uns liegt ein Atlantik voller Unterschiede. Ich lebe auf der Seite, wo man lernt, einen Sauerstoffsensor anzulegen. Wo man dreimal am Tag sagt: »Jetzt dehnen wir deinen Unterschenkel«. Wo die einzigen Männer Ärzte sind. »Neulich hatten wir auch einen Vater hier«, sagt die Sprechstundenhilfe. »Der war mit seinem Sohn beim EEG.«
Auf unserem Lieblingsspielplatz mögen manchmal mehr Männer als Frauen sitzen, vor allem am Samstag, doch die Welt der Frühförderzentren und Kinderkrankenhäuser – sie ist weiblich. Frauen, die füttern, Frauen, die Rollstühle schieben, Frauen, die im Wartezimmer sitzen. Neun von zehn aller pflegenden Angehörigen in Deutschland sind laut einer Allensbach-Studie weiblich: Mütter, Schwestern, Töchter, Schwiegertöchter. Nur 42 Prozent von ihnen arbeiten, die meisten Teilzeit. Laut Allensbach wird sich dieser Zustand mit der Überalterung der Gesellschaft massiv verschärfen: In zehn Jahren werden schätzungsweise 27 Millionen Menschen in Deutschland einen Pflegefall in der Familie haben. Der Großteil wird laut der Studie zu Hause gepflegt werden. Von Frauen.
»Komm mir jetzt nicht mit dem Klischee der aufopferungsvollen Frau«, sagt Clara, als ich mit ihr darüber spreche. »Nimm den Heiligenschein mal schön wieder ab. Das liegt uns nicht im Blut, das ist nicht naturgegeben. Und wenn die Rollenbilder in deiner Welt noch fester zementiert sind – es liegt an dir, etwas daran zu ändern.«
Das erste Jahr mit Lotta ist fast um und sie kann nicht sitzen, nicht alleine essen, nicht mal den Kopf stabil halten. Lotta kann lächeln, sie kann schnullern, sie lebt. »Und was, wenn ..?«, hat Harry eines Abends gefragt. »Wenn sie nie laufen lernt? Wenn sie immer Hilfe braucht? Wenn du jetzt immer füttern musst – zwei Stunden am Tag? Dein ganzes Leben lang?« Habe ich eine Entscheidung getroffen, die endgültig ist? Habe ich den »Point of no return« passiert, ohne es zu merken? Geht es ab hier nur noch geradeaus, hinter einem Gitterbett den langen Flur entlang, immer der Krankenschwester hinterher? Doch wenn ich zurückschaue, sehe ich keinen Punkt, wo ich hätte abbiegen wollen.
Harry ist einer dieser Väter, die in den ersten Wochen jede Stunde aus dem Büro anrufen. Wie viel hat er getrunken? Wie viel geschlafen? Und doch tat sich nach Bens Geburt ein Graben auf zwischen Harry und mir. Die meisten Eltern kennen ihn, er ist fast unvermeidbar, wenn einer ins Büro geht und der andere zu Hause beim Baby bleibt. Auf der einen Seite lange Konferenzen, auf der anderen der Babymassagekurs. Es war ein schmaler Graben, über den wir jeden Abend drüberspringen konnten. Meist fand ich ihn sogar schön, so hatten wir uns abends viel zu erzählen, jeder aus seiner Welt. An guten Tagen fand ich meine Seite die bessere Wahl. Was Harry alles verpasste. Das erste Mal auf der großen Rutsche. Den ersten Möhrenbrei. Den zweistündigen Mittagsschlaf. Sowieso: Das Ende war absehbar, wie meine Mutter sagte: »Sie werden so schnell groß.«
Wir haben immer aufgepasst, dass der Graben nicht zu groß
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