Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
für dich war, als Ben so lange nicht krabbeln konnte. Das kennst du doch schon, wart mal ab!«
Ben klettert auf einen Baumstamm, der am Wegesrand liegt, und balanciert darüber, Luca hinterher. »Das muss Luca noch üben. Das könnte besser klappen«, sagt Melanie. »Wusstest du, dass dabei die gleichen Hirnareale aktiv sind wie beim Rechnen?«
Warum wissen Mütter heute so viel über Hirnforschung? Warum denken wir beim Balancieren nicht an Spaß oder wenigstens den Gleichgewichtssinn, sondern an Mathenoten?
Luca rutscht ab und fällt auf den matschigen Waldboden. »Was soll nur aus ihm werden?«, fragt Melanie und es klingt nur halb ironisch. Sie klopft auf den Baumstamm. »Komm, Schatz, versuch es gleich noch mal.«
Ich schaue ihm zu, wie er sich auf dem Baum abstützt und hochzieht, wie er die Knie durchstreckt, die Arme ausbreitet, die Finger ausstreckt. Was soll nur aus ihm werden? Er ist doch jetzt schon so viel. So viel, was Lotta vielleicht niemals sein wird.
Ich schaue Melanie zu, wie sie Luca zuschaut. Ich lasse Lottas Kinderwagen hin- und herrollen, sie seufzt im Schlaf. Melanie ruft: »Arme weiter auseinander, Luca!« Pass auf, sieh hin, dein Kind ist gesund, verdammt, genieß es. Warum suchen wir nach Defiziten, wo wir stolz sein könnten? Warum muss es immer höher, weiter, besser, mehr sein? Sind unsere Kinder niemals gut genug?
»Hast du den Artikel in der Babyzeitschrift gelesen, über Dyskalkulie?«, sagt Melanie. »Rechenschwäche. Man kann da früh gegen ...«
»Ich habe ganz vergessen, ich muss noch einkaufen. Komm, Ben!« Ben hüpft vom Baumstamm.
»Oh«, sagt Melanie. »Dann bis bald, ja? Wir telefonieren.«
Ben rennt vor, ich winke zurück und schlage einen schnellen Schritt an.
Warum machen wir uns solche Sorgen um Kinder, die doch keine Sorgenkinder sind? Wir wollen keine Chance verpassen, kein Potenzial ungenutzt lassen, wir beobachten sie ganz genau. Wir fördern unsere Kinder so konzentriert, als hätten sie ohne uns keine Chance. Sind sie etwa allesamt behindert?
Als ich damals las »Luca läuft!«, habe ich angefangen, mit Ben zu üben. Warum eigentlich? Ist das Leben ein Rennen, bei dem der gewinnt, der als Erster fertig ist? Kriegt der den besten Job, der als Erster läuft? Und selbst wenn – ist das wirklich alles, was zählt? Was wollen wir unseren Kindern beibringen: Renn schneller als die anderen?
Natürlich ist das ein Schichten-Phänomen. Wir sind die Akademiker-Mütter, von denen die Nachrichten berichten, dass sie ihre im Schnitt 1,34 Kinder zu spät kriegen oder gar nicht, die Mittelschicht, die angeblich so viel Angst vor dem Abstieg hat. Melanie und ich und all die anderen um uns herum – wir haben unsere Kinder sehr bewusst bekommen und bewusst geht es weiter. Melanie coacht Lucas und Noahs Entwicklung mit dem gleichen Eifer, mit dem sie in einem früheren Leben Unternehmen beraten hat. Ich suche mit derselben Ausdauer im Internet nach einer Matschhose ohne PVC, mit der ich sonst Artikel recherchiere.
Mit der Geburt unserer Kinder wurden wir Teil eines Diskurses, der in den Feuilletons verhandelt wird. Talkshows behandeln die Frage, wann wir wieder wie viel arbeiten sollten. Sind wir Latte-macchiato-Mütter, die im Café sitzen, oder Curling-Moms, die jedes Hindernis aus dem Weg wienern? Eine Tiger-Mutter wie Amy Chuan, die einen Bestseller darüber geschrieben hat, wie sie ihre Töchter zu Höchstleistungen anspornt, oder eine Helikopter-Mom, die um ihr Kind kreist? Wir werden katalogisiert wie Tiere, die vom Aussterben bedroht sind.
Wir beäugen uns gegenseitig, wir messen uns, wer macht es richtiger? Luca will jetzt schon lesen lernen! Was, du machst eine Fünffach-Impfung? Ach, du armes Kind, du singst so schön, wie schade, dass deine Mutter dich nicht zum Musikkurs fahren will. Deutschland sucht die Supermutter und wir suchen mit. Dinkelbrezel oder Gummibärchen, Pampers oder Ökostoff-Windeln, Waldkindergarten oder Englisch ab einem Jahr – mit jeder Entscheidung verorten wir uns in einer komplexen Matrix. Alles ist politisch. Alles könnte entscheidend sein für die Zukunft unserer Kinder. Wer in diesem Umfeld ein Punker sein will, feiert den zweiten Geburtstag seines Kindes bei McDonald’s. Fuck you – Fanta für alle!
Bin ich raus aus der Debatte, wie Clara sagte? Die Zukunft meiner Tochter hängt nicht an meiner Entscheidung zwischen Kinderzimmer oder Karriere, sondern an den Ärzten. Mein Schreckgespenst heißt nicht mehr »Rabenmutter«,
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