Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
wird. Als Ben fünf Monate alt war, engagierten wir Jodi für einen Abend die Woche. Freitagabend wurde unser Abend. Kino, Restaurant, Freunde treffen. Ein ›wir‹ sein, das aus zwei Menschen statt aus dreien besteht. Als Ben ein Jahr war, habe ich wieder ein paar Stunden die Woche gearbeitet. Alles schien möglich.
Mit Lottas Geburt wurde aus dem kleinen Graben der Atlantik. Auf meiner Seite kann das Stirnrunzeln eines Neurologen eine schlaflose Nacht bedeuten, auf seiner stürzt genau dann die Maschine des polnischen Präsidenten ab, wenn er schon zwei Wochenenden lang im Büro statt zu Hause war. Auf meiner dreht sich die Welt schneller: neue Therapien, neue Ärzte, neue Fragen und Probleme. Sehr viel Schreien. Im ersten Jahr verbringen Lotta und ich zusammengerechnet etwa einen Monat im Krankenhaus. Ich könnte jeden Abend ein Referat von mehreren Stunden halten. Ruhe ist besser. Schlaf. An manchen Abenden bringe ich die Kinder ins Bett und bleibe nur so viel länger wach, wie es dauert, sich die Zähne zu putzen. Ich bin so müde, dass ich nicht mehr ich selbst bin.
»Ich vermisse meine alte Frau«, sagt Harry eines Abends. »Kriege ich die irgendwann wieder?«
»Ich vermisse mein altes Leben«, antworte ich. »Kriege ich das irgendwann wieder?«
Vor einer der Embos: »Du musst auch mal im Krankenhaus bleiben. Jetzt, wo Lotta abgestillt ist.«
Er grinst. »Aber nur, wenn Schwester Steffi Nachtdienst hat.«
Er macht das. Er bleibt eine Nacht und weiß danach, wie man einen Sauerstoffsensor anlegt. Er hilft auch sonst. Er rührt Breie an, kauft ein, spült Fläschchen. Spätabends sitzt er über den Rechnungen vom Krankenhaus und den Schreiben von der Krankenkasse. Er macht sehr viel, mehr als andere. Und doch sind wir wie alle. Die Anleitung der Mutter bei der Therapie. Das Mutter-Kind-Zimmer im Krankenhaus. Er im Büro, ich bei den Kindern. Ende, aus.
Als Lotta sieben Monate alt wird, gehen wir wieder jeden Freitagabend weg. Doch es ist nicht so einfach, über den Atlantik zu springen. Man muss schon ein Flugticket buchen.
»Du machst Witze«, hat Melanie gesagt. »Das ist doch kein Ort für Kinder.«
»Mach das«, meint Clara. »Für dich.«
Nina fragt: »Nimmst du mich mit?«
Meine Mutter: »Willst du nicht lieber mit mir und den Kindern nach Holland?«
Der Großvater schweigt und erzählt dann von seinem Arzttermin. Er solle einen Rollator beantragen, habe der Arzt gesagt. »Aber da bleibe ich lieber zu Hause, statt mit so einem Ding auf die Straße zu gehen!«
Ich drücke seine Hand. »Denk doch noch mal drüber nach.«
Er schüttelt den Kopf.
Später rufe ich Dr. Feldkamp an und bitte ihn um seinen Segen. Er sagt: »Lotta braucht Alltag und nicht New York, um sich zu entwickeln.«
Ich sollte mich von meinen alten Träumen verabschieden. Ich sollte realistisch denken. Es geht eben doch nicht alles.
In der Boeing 747, weit oben in dunkler Nacht, kippt Ben Apfelsaft über meine Hose, während Lotta auf meinem Arm schreit. Später ziehe ich den Sitzgurt um Bens Hüften fest, stelle den Fernseher auf Micky Maus ein und wickele Lotta auf dem wackeligen Brett über der Flugzeugtoilette. Das deutsche Ehepaar hinter uns hat sich neue Plätze gesucht, sobald wir Reiseflughöhe erreicht hatten.
Ein Mann bleibt neben unserer Reihe stehen und strahlt mich an: »You are doing great!«. Bob aus Missouri, grauer Bürstenhaarschnitt, roter Pullunder. Seine Frau Nancy winkt aus der Reihe rechts hinter uns herüber. »Great Mom«, »great kids« und »you look amazing«. Auf 11 000 Metern Höhe polieren Bob und Nancy mein Selbstbewusstsein auf, bis ich auch nach der Landung weiter zwanzig Zentimeter über dem Boden schwebe. Bis die Kinder aufwachen. Es ist zwei Uhr nachts deutscher Zeit.
Mit einem lauten Plom macht der Zollbeamte seinen Stempel, ich lege meinen Zeigefinger auf den Scanner für den Fingerabdruck und versuche ein Lächeln in seine Webcam.
»Mama!«
»Was denn, Ben?«
»Wo ist Papa?«
»Nicht jetzt.«
»Mama!«
»Was denn?«
»Ich will auch mal gucken.«
Mit dem freien Arm wuchte ich Ben hoch, damit er über den Tresen sehen kann. Er grinst den Beamten an.
Ich hole zuerst unseren Kinderwagen an der Ausgabe für Sondergepäck, schnalle die schreiende Lotta fest und wuchte unseren Koffer vom Band. Als sich die Schiebetüren vor uns öffnen, schauen wir in eine Halle voller Menschen. Kinder mit Ballons »Welcome«, Fahrer mit Pappschildern »Mr. Chang«, »Mr. Wedemeier«.
»Ist
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