Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
sondern Tod. Noch vor drei Jahren habe ich meiner Mutter die Butterkekse für Ben ausgeredet – »zu viel Fett« – und ihr Dinkelkekse aufgeschrieben, die es nur in der Innenstadt gibt. Luca musste erst drei werden, bevor er ohne Melanie aufs Klettergerüst durfte. Wie sehr wir übertreiben. Die Kinder, die alleine auf der Intensivstation in Duisburg liegen, sind ganz weit weg.
Ich kurve mit Lottas Wagen um ein Schlagloch. Bin ich unfair? Darf man sich nur Sorgen um Kinder machen, die um ihr Leben gekämpft haben? Bin ich wütend, weil meine Tochter in diesem Rennen keine Chance hat? Und doch kommt es mir undankbar vor, etwas verbessern zu wollen, das der Perfektion so nahe ist. Verrückt, sich um etwas zu sorgen, über das man sich freuen sollte.
Jetzt habe ich ein Kind, das eine Helikopter-Mom braucht und eine Curling-Mom, weil es permanente Unterstützung braucht. Eine Tiger-Mutter, die immer wieder motiviert und anspornt, die alles rausholt, die das Potenzial ausschöpft. Jetzt könnte ein Kurs mehr oder weniger tatsächlich einen Unterschied machen. Jetzt geht es nicht um Geige nach der Suzuki-Methode, sondern darum, den Kopf gerade zu halten.
Und doch fällt es mir schwer, eine Balance zu finden, schwerer noch als damals bei Ben. Wo ist die Grenze zwischen Fördern und Überfordern? Wie viel Therapie ist zu viel für Lotta, wie viel zu wenig? Was ist noch Annehmen, was schon Aufgeben? Bei Ben waren das Schlimmste, was mir drohte, ein schlechtes Gewissen und ein Kind, das später Laufrad fährt als die anderen. Bei Lotta steht so viel mehr auf dem Spiel.
Und wenn keine Therapie die richtige ist? Wenn ich mich noch so sehr anstrengen kann und Lotta trotzdem nicht laufen lernt? »Es gibt keine Wundertherapie«, warnt mich Feldkamp. »Machen Sie das, was in Ihr Leben passt.« Passt Lotta in mein Leben? Habe ich noch ein Leben? Hat sie eins? Alle paar Monate liegt Lotta in Vollnarkose auf dem OP-Tisch und in der Zeit dazwischen sitzen wir in Therapie. Jeden Tag dreimal zehn Minuten Vojta und Schreien. »Ist gleich vorbei, Schatz.«
Was ist das – ein Leben? Findet es dann statt, wenn Lottas Kindheit vorbei ist? Wenn sie laufen kann? Wenn sie sehen kann? Wann hört das Fördern auf und fängt das Leben an?
Am nächsten Morgen sage ich den Schnuppertermin bei der Klangschalentherapie ab. Ich packe Lotta in den Kinderwagen und gehe auf den Spielplatz. Wir sind die Einzigen, es ist ein grauer Tag. Ich setze mich auf eine Schaukel und schwinge mit ihr auf dem Schoß hin und her, hin und her. Kann ich meinen alten Job vergessen? Werde ich nun immer bei Therapeuten und Ärzten sitzen? Wird Lotta jemals laufen? Ich stoße mich mit den Füßen ab, wir schwingen höher. Lotta lässt einen Freudenschrei los und macht sich steif vor Begeisterung. Sie streckt ihre Beine durch, ihre Zehen. Es ist eine Fehlstellung, nicht gut, ich sollte nicht weiterschaukeln. Was ist mir wichtiger – dieser Moment oder eine Zukunft, die vielleicht nie eintritt? Laufen oder lachen?
11
»Lotta braucht Alltag und nicht New York«
Von Müttern, Vätern, Arbeitsteilung – und einer Reise über den Atlantik
Der schwarze Zollbeamte hinter der Scheibe mustert mich. JFK Airport. Ich habe Lotta auf dem Arm, sie quengelt. Ich schiebe unsere Pässe durch den Schlitz. Ben zerrt an meiner Hose. »Mama!«
»Madam, who are you travelling with?«
»Lufthansa.« Ich nehme Lotta auf den anderen Arm. Nun mach schon deinen Stempel.
»No, Madam, who are you travelling with?« Betont langsame Aussprache. »Where is your husband?«
Mein Mann? »I’m on my own.«
Er schaut mich an und ich lese den Gedanken in seinen Augen. Ich bin allein mit Ben und Lotta nach New York City geflogen. Ich stimme dem Zollbeamten zu. Ich muss verrückt geworden sein.
»New York!«, hat Harry durchs Telefon gerufen. »Stell dir vor.«
»Toll.« Und ich?
Vier Wochen soll Harry einen Kollegen im Studio vertreten. Es ist die Stadt, wo wir uns kennengelernt haben. Unsere Stadt. New York im November, vor genau sieben Jahren:
»Warst du schon mal in der Bronx?«
Ich schüttele den Kopf.
»Da solltest du als Frau aber nicht alleine hin.«
»Na, dann.« Ich lächele.
Ich bin für ein Praktikum in der Stadt, er arbeitet hier und sagt: »Komm, ich zeig dir die Stadt.« Ein Spaziergang über die Brooklyn Bridge mit Blick auf die Skyline, ein Gang durch Harlem, die West Side, China Town, die Lower East Side – wir erlaufen uns einen Stadtteil nach dem anderen. Es ist
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