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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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presst uns eng zusammen. Er bringt auch die letzten Zweifel zum Schweigen. Annehmen – das geht sehr schnell, wenn andere starren. Wir gegen den Rest der Welt – das ist nicht das schlechteste Gefühl.
    »Wo ist eigentlich Frau Girschke?«, frage ich Harry. Er zuckt die Achseln. Was wird sie sagen, wenn sie Lotta zum ersten Mal im Reha-Buggy sieht?
    Einmal begegne ich einer Mutter im Stadtwald, auch mit Reha-Buggy, grau-grün. Wir lächeln uns zu und heben die Finger vom Lenker. Wir grüßen uns wie Motorradfahrer, wenn sie sich auf der Landstraße begegnen. Wir sitzen nicht in klimagekühlten Innenräumen, uns weht der Wind ins Gesicht. Ein geheimer Club.
    Wäre es leichter, wenn es mehr von uns gäbe? Wäre es anders, wenn man mehr Behinderte sähe? Wenn wir in unserer Gegend welche sehen, treten sie fast immer in Gruppen auf. Wie eine kleine Herde, begleitet von Betreuerinnen, die anderen Menschen machen ihnen Platz. Als wäre ein Luftpuffer nötig zwischen ihnen und dem Rest der Gesellschaft.
    In Holland, an der Küste, haben wir anderes erlebt. Das Rote Kreuz fährt mit seinen Gruppen dorthin, die Strände sind barrierefrei zu erreichen. Extragroße Strandkabinen und ein »Strandjutter«, ein Amphibienfahrzeug mit vier riesigen Crossrädern, das so wenig einem Rollstuhl ähnelt wie ein Offroad-Jeep einem Passat. Wer den Strandjutter fährt, dem ist der Neid aller kleinen Jungen sicher. Hier rast auf dem Dünenwanderweg ein Behinderter an uns vorbei, der sein Fahrrad mit den Händen so schnell antreibt, dass er schneller ist als wir. Hier sitzen in den Cafès geistig Behinderte und keiner starrt und keiner schweigt und keiner guckt weg. Kein Luftpuffer. Vielleicht ist es alles nur Gewöhnung.
    »Wir müssen unsere Kinder überall mit hinnehmen«, sage ich zu Nina. »Wenn das alle machen, wird irgendwann keiner mehr gucken.«
    »Und was, wenn ich meine gute Laune nicht opfern will, nur um die Gesellschaft zu ändern?«
    Vielleicht ziehen wir auch einfach in das Ferienhaus meiner Mutter.

    Im Kindergarten, beim Abholen. Ich suche nach Bens Rucksack, Lotta auf dem Arm. Sie trägt ihr schönstes Cordkleid und schreit. Ben zieht an meiner Hose: »Du musst die Schuhe zumachen.«
    »Das kannst du doch.«
    »Nein, du.«
    Ich knie mich mit der schreienden Lotta hinunter, da höre ich von hinten: »Gib mal her.« Clara nimmt mir Lotta ab und läuft mit ihr auf und ab, auf und ab. »Ist ja gut, Süße.« Ich ziehe Ben die Schuhe an und finde den Rucksack unter der Bank.
    Als ich mich wieder aufrichte, sehe ich am anderen Ende des Flurs Clara mit Lotta für ein paar Sekunden so, als wäre es das Kind einer anderen. Sonst sehe ich zuerst ihre großen Augen, ihre kleine Nase. Jetzt sehe ich, dass man es sieht, auch ohne Reha-Buggy. Ihre schiefe Kopfhaltung, ihre durchgestreckten, dünnen Beine, auch durch die Strumpfhose sind die Gelenke dicker als der Rest. Ich sehe, wie geschwitzt ihre wenigen Locken sind, und sage: »Ben, gleich gehen wir nach Hause, ja?«
    Ich bin nicht die Einzige, die Lotta beobachtet. Eine andere Mutter nähert sich, streichelt Lottas Rücken, fragt etwas, Clara zuckt die Schultern. Ich gehe hin und nehme mir Lotta zurück. Sie kuschelt sich in meinen Arm und ist auf einmal still. Clara sagt: »Die hat mich gefragt: Was hat sie denn?«
    »Und was hast du gesagt?«
    »Hunger.«

    Was hat sie denn? Wie soll man das beantworten? »Eine Gefäßfehlbildung«, antworte ich manchmal und sehe nur Fragezeichen. »Im Gehirn«, setze ich nach und der Gesichtsausdruck gegenüber wird betroffen, bleibt aber verständnislos. Muss ich jedes Mal Lottas ganze Krankengeschichte erzählen? Will ich?
    »Darf ich behindert sagen?«, fragt Clara. »Das klingt so abwertend.«
    Das B-Wort. Ist behindert ein Schimpfwort oder eine Zustandsbeschreibung? Im Internet finde ich ganze Abhandlungen zu dieser Frage. Behinderung lässt sich medizinisch definieren oder sozial: Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert durch zu hohe Bürgersteige oder Arbeitgeber, die einem Rollstuhlfahrer keinen Schreibtischjob zutrauen. Man solle nicht behindert sagen, sondern »Mensch mit Behinderung«.
    Was hat sie denn? Sie ist ein Mensch mit Behinderung? Eher nicht.
    Ich beginne mit: Sie kann nicht sitzen. Sie kann nicht gut sehen. Zustandsbeschreibungen. Das Problem sei, so lese ich, dass der Begriff »Behinderung« immer unterscheide zwischen denen, die behindert sind, und denen, die normal sind. Nur was ist normal? Ist es der, der bei

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