Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
Licht mit den Augen sieht, oder der, der noch im Dunkeln mit den Händen sehen kann? Beide haben ein Defizit, aus der Sicht des jeweils anderen. Wer darf wen als behindert bezeichnen? Wie Wolfgang Schäuble, Finanzminister, über sich und andere Rollstuhlfahrer in einem Interview sagt: »Alle Menschen sind behindert. Nur wir wissen es wenigstens.«
»Beeinträchtigte Kinder« oder ein »Kind mit Einschränkungen«, so steht es in den Broschüren, die ich beim Gesundheitsamt mitgenommen habe.
Was hat sie denn? Sie ist ein Kind mit Einschränkungen? Nein, auf keinen Fall.
»A girl with special abilities« – so würden es besonders korrekte Amerikaner ausdrücken. Besondere Fähigkeiten, das würde Ben gefallen. Was hat sie denn? Sie ist Batman. »Physically challenged« – körperlich herausgefordert. Ist sie Usain Bolt? Besondere Kinder – so nennt es die Internetseite, auf der ich Bens Matschhosen bestelle. Sie ist ein besonderes Kind. Natürlich. Aber auf welche Frage wäre das die Antwort?
Was würde Lotta wollen? Würde sie sich gegen jedes Etikett wehren? Werde ich sie eines Tages fragen können?
Ich rufe im Schwimmbad an. »Ich wollte mich nach dem therapeutischen Schwimmen erkundigen.«
»Haben wir nicht.«
»Aber auf Ihrer Internetseite steht, dass Sie für beeinträchtigte Kinder auch integrative Kurse ...«
»Ach, Sie meinen die Behinderten?«
Seitdem sage ich behindert.
In vielen Gesprächen gibt es jetzt den Punkt, an dem ich es aussprechen könnte. Soll ich? Wenn eine Freundin aus Studienzeiten anruft, von der ich lange nicht gehört habe. Wenn ich allein unterwegs bin und auf der Straße Nachbarn von früher treffe. Während wir uns unterhalten, läuft in meinem Kopf eine zweite Unterhaltung ab. Behindert. Wenn ich das ausspreche, wird unser Gespräch eine andere Richtung einschlagen. Soll ich es sagen?
Im Spielzeugladen um die Ecke. Ich habe schon ein Puzzle für Ben auf die Theke gelegt, nun stehe ich in der Babyecke. Ich nehme eine weiche Rassel in die Hand, rot-weiß geringelt.
»Wie alt ist Ihre Kleine jetzt?«, fragt mich die Verkäuferin von hinten. Ich war nur einmal mit Lotta hier. Damals war sie noch sehr klein.
»Ein Jahr.« Ich unterschlage vier Monate.
»Dann ist sie fast zu alt für Rasseln, oder? Ich habe gerade einen wunderschönen Laufwagen gekriegt. Will sie schon schieben?«
Ich könnte sagen: »Haben wir schon.« Oder: »Sie mag die Rasseln immer noch am liebsten.« Ich sage: »Lotta ist behindert, die wird so bald keinen Laufwagen schieben.«
Das Lächeln der Verkäuferin fällt in sich zusammen. Sie sucht nach dem passenden Gesichtsausdruck. Sorge? Mitgefühl? Sie entscheidet sich für Trauer. »Wie schrecklich.« Hand vor dem Mund.
Ich winke ab. »Sie ist ein fröhliches Mädchen und es geht ihr gut. Das ist doch die Hauptsache, oder?«
Was für ein schreckliches Klischee. Was sage ich da? Und warum sage ich das? Muss ich jetzt wirklich jeden trösten? Es funktioniert sowieso nicht. Die Verkäuferin nickt und sieht mich immer noch mit geweiteten Augen an. »Ich nehme das Puzzle«, sage ich. »Und haben Sie auch Rasseln in schwarz-weiß?«
Sie nimmt die Hand vom Mund. »Wieso schwarz-weiß?«
Ich kann die Diagnose anderen in die Hand drücken wie eine Granate und den Stift rausziehen. Ich kann zusehen, wie uns alles um die Ohren fliegt. Ich kann Menschen das Lächeln aus dem Gesicht wischen, ich kann Unterhaltungen sprengen, ich kann alle in Verlegenheit bringen. Soll ich?
Ich muss dann trösten, helfen, Unterhaltungen wieder in normale Bahnen lenken. Ich muss damit leben, dass mich Menschen anschauen, als wollten sie kondolieren. Will ich?
Später werde ich lernen, wie man so etwas macht. Keine Betonung auf »behindert«, keine Pausen, kein Blickkontakt. Einfach weiterreden. »Lotta ist behindert, ein Laufwagen ist nicht das Richtige. Aber sie liebt Rasseln, Sie sollten mal unsere Sammlung sehen, ich könnte ein Rassel-Museum aufmachen ...« Dabei den Kopf unten halten, Spielsachen durchgucken. Am besten gar keine Gelegenheit zur Reaktion geben. Direkt eine ganz andere Frage anschließen: »Und läuft der Laden gut?«
Die meisten Menschen brauchen nur ein bisschen Zeit, um sich zu fangen. Um das Gesicht zu ordnen und sich auf ihr Gegenüber einzustellen. Manche fragen später trotzdem: »Was hat sie denn?«, aber der Tonfall ist ein anderer. Sie ahmen die Selbstverständlichkeit nach, die ich vormache. So ist es angenehmer – für beide Seiten. Je mehr
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