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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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Krankenversicherung klare Vorteile hat, insbesondere der Bereich Heil- und Hilfsmittel«, sagt ein Sprecher in einem Film, den ich bei stern.de finde. Viele Tarife privater Versicherungen deckeln den Betrag, der pro Jahr für Hilfsmittel wie Brillen, Rollstühle oder Prothesen zur Verfügung steht, in dem Filmbeispiel auf 2500 Euro. Eine Prothese kann aber schon mal 25 000 Euro kosten.
    Der Reha-Buggy wird nicht das letzte Hilfsmittel sein, das wir kaufen werden. »Stell dir vor, ich hätte einen unsicheren Job und wir müssten knapp kalkulieren«, sagt Harry. Wir sind kein typischer Fall. Das Armutsrisiko von Familien mit behinderten Kindern ist doppelt so hoch wie bei Familien mit nicht behinderten Kindern, lese ich in einem Zeitungsinterview mit der ehemaligen Behindertenbeauftragten der Bundesregierung Karin Evers-Meyer. Wenn sich ein Elternteil um ein behindertes Kind kümmern muss, kommt weniger Geld rein – und mehr geht raus, sei es für einen Rollstuhl oder für ein größeres Auto, in das der Rollstuhl passt.
    Wir haben großes Glück. Auch, dass unsere Versicherung so kulant ist. Was, wenn sie es irgendwann nicht mehr ist? Ist Behinderung ein Luxus, den man sich leisten können muss?

    »Eisdiele«, sagt Ben. »Bitte, bitte!«
    Ich schaue den Reha-Buggy an und ziehe Lotta ihre schönste Jacke an, die pinke. Zum ersten Mal muss sie nicht liegen. »Lotta kann sitzen!«, ruft Ben. »Mach ein Foto, Mama!« Lotta sitzt in ihrem Wagen und reißt die Augen auf. Wie groß sie aussieht. Wie aufmerksam sie wieder schauen kann. An dem Bügel vor ihr befestige ich eine gelb-pink-rote Blume aus Stoff, die knistert, wenn man sie anfasst. Ben nimmt Lottas Hand und führt sie zu der Blume. »Schau mal, Lotta.« Sie öffnet ihre Hand und krallt sich an die Blume. »Sie kann greifen!«, ruft Ben. Ich filme die beiden mit dem Handy. Lotta lässt den Kopf zur Seite fallen und sieht eindeutig nicht ganz normal entwickelt aus. Ben gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Sie lächelt und ist das schönste Mädchen der Welt.
    »Lass uns gehen«, sage ich zu Ben. Er schiebt. »Los geht die wilde Fahrt«. Stolz laufe ich mit meinen beiden Kindern zur Eisdiele. Das Versteckspiel ist vorbei.

    Melanie. Sie steht an der gegenüberliegenden Straßenecke und schaut an uns vorbei. Wir könnten einfach weiter Richtung Eisdiele gehen. Ben ruft: »Luca!«
    Luca winkt, Melanie braucht eine Sekunde, dann tut sie es auch.
    »Schau mal, Luca«, ruft Ben. »Lotta kann sitzen.«
    Wir gehen aufeinander zu, Küsschen rechts, Küsschen links. Ben sagt: »Lotta hat jetzt einen Rollstuhl.«
    »Einen Reha-Buggy«, korrigiere ich.
    »Der sieht ... speziell aus«, sagt Melanie und mustert den Buggy.
    »Maßanfertigung. 3500 Euro.«
    »Echt?«
    »Ja, der stützt ihren Rücken. Weil sie doch nicht alleine sitzen kann.«
    »Später kriegt sie einen Rollstuhl«, sagt Ben und es klingt wie eine Auszeichnung. »Die wird dann immer geschoben.«
    »Cool«, sagt Luca.
    »Cool ist kein schönes Wort, Luca«, sagt Melanie automatisch. Sie zögert und beugt sich zu Ben runter: »Und deine kleine Schwester kriegt bestimmt keinen Rollstuhl, Ben. Das wird schon, du wirst schon sehen.«
    Verwirrt schaut Ben zu mir. »Vielleicht aber schon«, sage ich langsam. »Es kann sein.«
    Melanie runzelt die Stirn. Ich warte. Sie schweigt. Sie schaut auf die Uhr. »Hör mal, ich muss noch einkaufen. Wir telefonieren, ja?«
    »Klar.«
    Wir werden es nicht tun.
    »Überfordert«, wird Harry abends dazu sagen. »Hilflos.«
    »Trotzdem«, werde ich entgegnen.

    Ich schiebe den Reha-Buggy vor mir her wie einen geheimen Testapparat, der die wahre Natur der Menschen enthüllt. Ich mustere die Entgegenkommenden auf Reaktionen. Nun zeigt mal, was ihr für welche seid.
    Es gibt die Rätsel-Löser, immer noch: Ist dieses Kind jetzt ...? Oder ist es nicht ...? Sie starren. Sie schauen. Sie rätseln. Eine ältere Dame berät sich mit ihrer Freundin, die neben ihr steht. Was hat das Kind denn? Ganz normal ist das aber nicht, oder? Ben sieht diese Blicke und legt seine Wange an Lottas, er lächelt und winkt den Leuten zu. »Sag mal hallo, Lotta!« Er küsst sie. Manche lächeln zurück. Andere schauen ertappt weg. Zum ersten Mal bin ich froh, dass Lotta etwas nicht sehen kann.
    »Wie hältst du diese Blicke aus?«, frage ich Nina, als sie zu Besuch kommt. Gemeinsam schieben wir unsere Kinder vor uns her. Die Freakshow on tour. An der Ampel bleiben wir stehen.
    Nina sagt: »Ganz einfach!« Zwei Meter

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