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Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)

Titel: Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Roth
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recht: Ich bin raus. Ich muss die Erwartungen, die an eine junge Mutter gestellt werden, nicht mehr erfüllen. Ich könnte mich gehen lassen, ich könnte Ben drei Stunden lang »Bob der Baumeister« schauen lassen und meine Küche nie mehr aufräumen. Ich könnte auf offener Straße meine Kinder anschreien und nie wieder die Fenster saisonal schmücken. Alle würden es verstehen. Lotta ist die ultimative Entschuldigung. »Du musstest nicht vier Monate nach der Geburt dünner sein als vor deiner Schwangerschaft«, sagt Clara. »Du hattest Wichtigeres zu tun. Und das wirst du immer haben.« Man kann sich prima verstecken hinter einem behinderten Kind.
    »Andererseits«, sage ich, »haben die Leute jetzt andere Erwartungen, die auch nicht schöner sind.« Wenn meine Ehe scheitert oder Ben einmal Drogen nimmt, steht der Schuldige heute schon fest: Lotta. Das konnte ja nicht gut gehen. Das war eine zu große Belastung. Niemand würde lange überlegen, woran es lag.
    Eine Rolle habe ich vielleicht hinter mir gelassen, nun habe ich zwei neue zur Auswahl: die Überforderte und die Heilige. Die Überforderte hat kein Make-up, aber Augenringe, bald keinen Mann mehr, aber zu viel zu tun, um ihn zu vermissen. Die Heilige opfert sich mit einem seligen Lächeln für ihr behindertes Kind auf und hält dem Bäcker Vorträge über barrierefreie Eingänge. Beide gehen nicht zum Friseur, zum Sport oder ins Büro. »Arbeiten Sie eigentlich schon wieder?«, haben mich manchmal Menschen gefragt, als ich nur Ben hatte. Das klang mal ermunternd, mal vorwurfsvoll, je nachdem. Jetzt fragt das keiner. »Sie machen das so toll!«, lobt mich die Apothekerin strahlend, als ich mit Lotta in der Reihe warte, bis ich dran bin.
    Was mache ich denn so toll? Schlange stehen? Man kann auch einen Reha-Buggy wie eine Trophäe vor sich her schieben. Auch ein behindertes Kind kann ein Statussymbol sein. Ich guter Mensch.

    Auch behinderte Kinder haben Trotzanfälle an der Supermarktkasse, auch Mütter behinderter Kinder raunzen mal: »Nerv nicht.« Und schmücken später die Fenster mit Herbstlaub aus Transparentpapier. Auch Mütter behinderter Kinder sind mal eitel, egoistisch oder ehrgeizig. Und lesen abends gleich drei Kapitel »Wir Kinder aus Bullerbü« vor.
    Was, wenn ich einfach ich bleiben will? Wenn ich irgendwann wieder schreiben will? Wenn mir Selbsthilfegruppen unheimlich sind? Ich möchte nicht in einem Stuhlkreis sitzen, mit lauter Fremden. »Hallo, ich bin Sandra und meine Tochter ist ...« Was für Geschichten würde ich von den anderen hören? Würde ich andere Kinder sehen, ältere? Will ich wissen, wie Lottas Zukunft aussehen könnte?
    Ich könnte zum Psychologen, zur Beratungsstelle. Aber schon die Seelsorger im Krankenhaus waren nicht meins. Mir geht es gut. Und wenn es mal nicht so ist: Kann ich nicht einfach mit meinen Freundinnen reden, mit meinem Mann, meiner Familie?
    Natürlich gibt es Freunde, die nicht mehr anrufen, die mir eine Selbsthilfegruppe empfehlen, wenn ich doch lieber mit ihnen einen trinken gehen würde. Es gibt Menschen, die aus unserem Leben verschwinden, nach und nach. Wollen sie uns schonen? Uns Zeit geben? Wollen sie lieber gar nichts sagen als etwas Falsches? Natürlich gibt es Menschen, mit denen ich nicht über Lottas Diagnose reden will und deshalb über gar nichts mehr spreche. Aus deren Leben ich verschwinde. Brauche ich deshalb gleich eine Selbsthilfegruppe?

    Ich melde Lotta und mich bei einer Spielgruppe an, zur »frühen Förderung für von Behinderung bedrohte Kinder«. Sie ist auch nicht anders als der Babymassagekurs: Wir kommen auf eine Warteliste.
    Zuerst erreichen wir das Ende einer Warteliste, die ich längst vergessen hatte. Post vom Sportverein. »Wir können Ihrem Sohn Ben einen Platz anbieten.« Hockey, Fußball, Tennis, Judo, Leichtathletik – alles in einem Kurs. Mit monatlichen Berichten über Bens Fortschritte, per E-Mail. »Finden Sie die richtige Sportart für Ihr Kind!«
    »Was ist das, Mama?« Ben greift nach der Broschüre. »Sind das echte Tore? Da will ich hin.«
    Vor einem Jahr wäre ich begeistert gewesen. Jetzt sage ich: »Muss das sein, Ben?«

    Am Morgen saß ich mit Lotta in unterirdischen Krankenhausfluren, nun sitze ich auf Lounge-Sesseln aus Korbgeflecht und trinke Latte macchiato. Die Märzsonne spiegelt sich in Regenpfützen. Auf einem Tisch hat eine Mutter einen Grundriss ausgebreitet und eine Flasche Prosecco für alle bestellt. Die Kinder stecken in Hockeytrikots

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