Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
wie nervös sie war. Aber etwas von dieser Nervosität entsteht, rein atmosphärisch, immer, und eine gewisse ängstliche Spannung, ob das auch gut gehen wird, liegt stets in der Luft, wenn das Menschliche sich in Einen und Viele teilt, ein Einzelner einer Masse, sei es in welchem Sinn und Verhältnis immer, abgesondert gegenüber steht; und obgleich Charlottens alter Bekannter mit ihnen allen in gleicher Reihe am Tische saß, hatte doch dadurch, daß er allein das Gespräch führte und die anderen das Publikum bildeten, diese niemals ganz geheuere, wenn auch eben darum reizvolle Situation sich hier {413} hergestellt. Der Einzelne blickte mit großen, dunkel glänzenden Augen den Tisch entlang in den Sturm von Heiterkeit, den sein Citat erregt, und sein Gesicht, seine Haltung hatten wieder den naiv-unaufrichtigen Ausdruck gespielten Erstaunens angenommen, mit dem er anfangs ins Zimmer getreten war. Die »ambrosischen« Lippen regten sich dabei schon in Vorbereitung zusätzlicher Rede. Er sagte, als es stiller geworden war:
»Ein solches Wort ist nun freilich eine schlechte Bestätigung der Weisheit unseres Globus. Bei dem dezidierten Anti-Individualismus solchen Bekenntnisses endigt sich die Verwandtschaft von Chinesen und Deutschen. Uns Deutschen ist das Individuum teuer – mit Recht, denn nur in ihm sind wir groß. Daß dem aber so ist, weit ausgesprochener, als bei anderen Nationen, verleiht dem Verhältnis von Individuum und Gesamtheit, bei allen expansiven Möglichkeiten, die es jenem gewährt, auch wieder sein Trübsinnig-Mißliches. Ohne Zweifel war es einiges mehr, als Zufall, daß das natürliche taedium vitae des Alters sich bei Friedrich dem Zweiten in den Ausspruch kleidete: ›Ich bin es müde, über Sklaven zu herrschen.‹«
Charlotte wagte nicht aufzublicken. Sie hätte dabei nur betrachtsames Nicken und hier und da beifällige Erheiterung auch über diese Anführung rings um die Tafel festzustellen gehabt, aber ihre erregte Phantasie spiegelte ihr vor, daß unter lauter gesenkten Lidern hervor tückische Blicke gegen den Sprecher zuckten, und sie scheute sich furchtbar, das wahrzunehmen. Ein Zustand von Absenz, ein Verlorensein in schmerzliche Grübelei, trennte ihr Bewußtsein längere Zeit von dem Gespräch und hielt sie ab, seinen Assoziationen zu folgen. Sie hätte nicht zu sagen gewußt, wie die Unterhaltung dahin gekommen war, wo sie sie von Zeit zu Zeit wiederfand. Eine neue persönliche Aufmerksamkeitserweisung ihres Tischherrn hätte sie fast überhört: Er redete ihr zu, doch noch »ein Minimum« (so drückte er sich aus) von diesem Kompot zu {414} nehmen, und halb unbewußt nahm sie auch wirklich davon. Dann hörte sie ihn von Dingen der Lichtlehre sprechen, aus Anlaß gewisser Karlsbader Glasbecher, die er nach Tische vorzuweisen versprach, und deren Malerei, je nachdem man die Beleuchtung leite, den merkwürdigsten Farbverwandlungen unterliege. Er knüpfte etwas Abfälliges, ja Ausfälliges gegen die Lehren Newtons daran, scherzte über den durch ein Loch im Fensterladen auf ein Glasprisma fallenden Sonnenstrahl und erzählte von einem Blättchen Papier, das er als Andenken an seine ersten Studien über diesen Gegenstand und als früheste Aufzeichnung darüber aufbewahre. Es trage die Spuren des Regens, der im undichten Zelt bei der Belagerung von Mainz darauf gefallen. Gegen solche kleinen Reliquien und Denkzeichen der Vergangenheit hege er viel Pietät und konserviere sie nur zu sorgfältig, denn es sammle sich als Niederschlag eines längeren Lebens allzu viel solchen sinnigen Krames an. Bei diesen Worten begann Charlottens Herz unter dem weißen Kleid mit der fehlenden Schleife heftig zu klopfen, denn ihr war, als müßte sie rasch eingreifend sich nach weiteren Bestandteilen dieses Lebensniederschlages erkundigen. Doch sah sie die Unmöglichkeit davon ein, verzichtete und verlor den Faden der Unterhaltung aufs neue.
Beim Tellerwechsel vom Braten zur süßen Speise fand sie sich in eine Erzählung hinein, von der sie nicht wußte, wie sie aufs Tapet gekommen war, die aber der Gastgeber mit großer Wärme vortrug: die Geschichte einer seltsamen und moralisch anmutigen Künstlerlaufbahn. Es handelte sich um eine italienische Sängerin, die ihre außerordentlichen Gaben nur in dem Wunsche öffentlich gemacht hatte, ihrem Vater beizustehen, einem Einnehmer vom Monte Pietà in Rom, den seine Charakterschwäche ins Elend hatte geraten lassen. Das wundervolle Talent der jungen Person
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