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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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Sorgfalt im Umgange mit ihr in der Regel entbehre. Die Juden seien eben das Volk des Buches, und da sehe man, daß man die menschlichen Eigenschaften und sittlichen Überzeugungen als säkularisierte Formen des Religiösen zu betrachten habe. Die Religiosität der Juden aber sei charakteristischer Weise auf das Diesseitige verpflichtet und daran gebunden, und eben ihre Neigung und Fähigkeit, irdischen Angelegenheiten den Dynamismus des Religiösen zu verleihen, lasse darauf schließen, daß sie berufen seien, an der Gestaltung irdischer Zukunft noch einen bedeutenden Anteil zu nehmen. Höchst merkwürdig nun und schwer zu ergründen sei angesichts des so erheblichen Beitrags, den sie der allgemeinen Gesittung geleistet, die uralte Antipathie, die in den Völkern gegen das jüdische Menschenbild schwähle und jeden Augenblick bereit sei, in tätlichen Haß aufzuflammen, wie jene Egerer Unordnung zur Genüge zeige. Es sei diese Antipathie, in der die Hochachtung den Widerwillen vermehre, eigentlich nur mit einer anderen noch zu vergleichen: mit derjenigen gegen die Deutschen, deren {411} Schicksalsrolle und innere wie äußere Stellung unter den Völkern die allerwunderlichste Verwandtschaft mit der jüdischen aufweise. Er wolle sich hierüber nicht verbreiten und sich den Mund nicht verbrennen, allein er gestehe, daß ihn zuweilen eine den Atem stocken lassende Angst überkomme, es möchte eines Tages der gebundene Welthaß gegen das andere Salz der Erde, das Deutschtum, in einem historischen Aufstande freiwerden, zu dem jene mittelalterliche Mordnacht nur ein Miniatur-Vor- und Abbild sei … Übrigens möge man solche Beklemmungen seine Sache sein lassen und guter Dinge bleiben, es ihm auch nachsehen, daß er zu so gewagten Vergleichen und nationellen Zusammenstellungen greife. Es gäbe noch viel überraschendere. Auf großherzoglicher Bibliothek befinde sich ein alter Globus, der in manchmal frappanten Inschriften knappe Charakteristiken der unterschiedlichen Erdenbewohner gebe, wo es denn über Deutschland heiße: »Die Deutschen sind ein Volk, welches eine große Aehnlichkeit mit den Chinesen aufweist.« Ob das nicht sehr drollig sei und sein Zutreffendes habe, wenn man sich der deutschen Titelfreude und ihres eingefleischten Respekts vor der Gelehrsamkeit erinnere. Freilich bleibe solchen völkerpsychologischen Aperçus immer etwas Beliebiges, und der Vergleich passe ebenso gut oder besser auf die Franzosen, deren kulturelle Selbstgenügsamkeit und mandarinenhaft rigoroses Prüfungswesen sehr stark ins Chinesische schlügen. Außerdem seien sie Demokraten und auch hierin den Chinesen verwandt, wenn sie sie in der Radikalität demokratischer Gesinnung auch nicht erreichten. Die Landsleute des Konfuzius nämlich hätten das Wort geprägt: »Der große Mann ist ein öffentliches Unglück.« –
    Hier brach ein Gelächter aus, das denn doch noch schallender war als das vorige. Dies Wort in diesem Munde erregte einen wahren Sturm von Heiterkeit. Man warf sich in den Stühlen zurück und lehnte sich über den Tisch, schlug auch wohl mit {412} der flachen Hand darauf, – chokiert bis zur Ausgelassenheit von diesem prinzipiellen Unsinn, erfüllt von dem Wunsch, dem Gastgeber zu zeigen, wie man es zu schätzen wisse, daß er es auf sich genommen, ihn zu referieren und ihm zugleich zu bekunden, für welche ungeheuerliche und lästerliche Absurdität man den Ausspruch erachte. Nur Charlotte saß gerade aufgerichtet, in Abwehr erstarrt, die Vergißmeinnicht-Augen schreckhaft erweitert. Ihr war kalt. Tatsächlich hatte sie sich entfärbt, und ein schmerzliches Zucken ihres Mundwinkels war alles, worin bei ihr die allgemeine Lustigkeit sich andeuten wollte. Eine spukhafte Vision schwebte ihr vor: Unter Türmen mit vielen Dächern und Glöckchen daran hüpfte ein altersnärrisches, abscheulich kluges Volk, bezopft, in Trichterhüten und bunten Jacken, von einem Bein auf das andere, hob abwechselnd die dürren Zeigefinger mit langen Nägeln empor und gab in zirpender Sprache eine äußerste und tötlich empörende Wahrheit von sich. Während aber dieser Alb sie heimsuchte, kroch dieselbe Angst, wie schon einmal, ihr kalt den Rücken hinab: es möchte nämlich das überlaute Gelächter der Tafelrunde bestimmt sein, ein Böses zuzudecken, das in irgend einem schrecklichen Augenblick verwahrlost ausbrechen könnte, also, daß Einer aufspringen, den Tisch umstoßen und rufen möchte: »Die Chinesen haben recht!«
    Man sieht,

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