Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
den ich nicht nennen und nicht einmal näher kennzeichnen will, der auch keineswegs erfuhr, wie man ihm auf die zärtlichen Schliche gekommen, aber dessen wirklich küßliche Lippen wir Eingeweihten nachher mehr als einmal freundlich zu begrüßen Gelegenheit hatten.«
So die mit dem Lapsus eingeleitete Erzählung, an der nicht nur der Bergrat, sondern auch alle Umsitzenden sich mit Verwunderung weideten. Charlotte war sehr rot geworden. Sie war in der That bis in die Stirn, bis in das aufgestellte graue Haar hinauf so dunkel errötet, wie ihr zarter Teint es irgend zuließ, und die Bläue ihrer Augen wirkte befremdend blaß und grell in diesem Andrang. Sie saß von dem Erzähler abgewandt, ja förmlich von ihm weggedreht, gegen ihren anderen Nachbarn, den Hofkammerrat Kirms, und fast sah es aus, als wollte sie sich an seinen Busen flüchten, was er aber, selbst sehr wohlig unterhalten von der Geschichte, nicht bemerkte. Die arme Frau war voller Angst, der Hausherr möchte die Verfestigung dieses ge {420} heimen Kusses ins Nichts und ihre physikalischen Bedingungen noch weiter erörtern, und ein Kommentar blieb denn auch, als die Heiterkeit sich gelegt hatte, nicht aus; nur gehörte er mehr der Philosophie des Schönen als etwa der Wärmelehre an. Der Gastgeber plauderte von den Spatzen, die an den Kirschen des Apelles pickten, und von der vexatorischen Wirkung, welche die Kunst, dies völlig einzigartige und eben darum reizvollste aller Phänomene, auf die Vernunft auszuüben vermöge, – nicht einfach im Sinne der Illusionierung – denn keineswegs sei sie ein Blendwerk –, sondern auf tiefere Art: nämlich durch ihre Zugehörigkeit zur himmlischen zugleich und zur irdischen Sphäre, weil sie geistig und sinnlich auf einmal, oder, platonisch zu reden, göttlich und sichtbar zugleich sei und gleichsam durch die Sinne für das Geistige werbe. Daher die eigentümlich innig getönte Sehnsucht, die das Schöne errege, und die in der intimen Handlung jenes jugendlichen Kunstfreundes ihren Ausdruck – ihren aus Wärme und Kälte geborenen Abdruck gefunden habe. Was dabei unsere Lachlust errege, sei die verworrene Inadäquatheit des unbelauscht vollbrachten Aktes. Eine Art von komischem Weh ergreife einen bei der Vorstellung, was der Verführte empfunden haben möge bei der Berührung seiner Lippen mit dem kalten und glatten Glase. Genau genommen aber sei kein rührend-bedeutenderes Gebilde denkbar, als diese Zufallsmaterialisation einer blutwarmen, dem Eisig-Unerwidernden aufgedrückten Zärtlichkeit. Es sei geradezu etwas wie ein kosmischer Spaß etc.
Man servierte den Kaffee gleich bei Tische. Goethe trank keinen, sondern nahm statt dessen zu dem Nachtisch, der dem Obste folgte und aus allerlei Confekt, Tragantkringeln, Zukkerplätzchen und Rosinen bestand, noch ein Gläschen Südweins namens Tinto rosso. Danach hob er die Tafel auf, und die Gesellschaft begab sich wieder ins Zimmer der Juno, auch in das anstoßende kabinetartige Seitenzimmer hinüber, das bei den {421} Hausfreunden nach dem dort hängenden Portrait eines Renaissance-Herzogs von Urbino das »Urbino-Zimmer« hieß. Die noch folgende Stunde – eigentlich waren es nur etwas mehr als drei Viertel einer solchen – war recht langweilig, – aber auf eine Art, die Charlotte im Zweifel ließ, ob sie sie den Erregungen und Beklemmungen der Tischzeit vorzöge. Gern hätte sie den Jugendfreund von der Beflissenheit dispensiert, mit der er für Beschäftigung glaubte sorgen zu müssen. Dabei bemühte er sich hauptsächlich um die auswärtigen Gäste und die, welche zum erstenmal im Hause waren, also um Charlotte und die Ihren sowie um Bergrat Werner, denen er unaufhörlich, wie er sich ausdrückte, »etwas Bedeutendes vorzulegen« bedacht war. Eigenhändig, aber auch mit Hilfe Augusts und des Dieners, hob er große Portefeuilles mit Kupferstichen aus den Gestellen und schlug ihre unhandlichen Deckel vor den sitzenden Damen und dahinter stehenden Herren auf, um ihnen die darin geschichteten »Sehenswürdigkeiten« – dies war sein Wort für die barocken Bilder – vorzuführen. Dabei verweilte er bei den obenauf liegenden immer so lange, daß die späteren nur noch durchflogen werden konnten. Eine »Schlacht Constantins«, in großen Blättern, erfuhr die ausführlichste Explikation; er wies mit dem Finger darauf hin und her, indem er auf die Verteilung und Gruppierung der Figuren, die richtige Zeichnung der Menschen und Pferde aufmerksam machte und
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