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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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Sprecher dem wohltuend Sentimentalen eine enttäuschende Wendung ins höchstens Interessante gegeben, alles aufs Psychologische abgestellt und für das Vorkommnis unentbehrlicher Geringschätzung des Genies für seine Kunst eine Gutheißung merken lassen, die sie – wiederum um ihrerselbst und um seinetwillen – erkältete und verschreckte. Aufs Neue verfiel sie in grüblerische Abwesenheit.
    Das Entremet war eine Himbeer-Crême, sehr duftig, mit Schlagrahm geschmückt, nebst Löffelbiskuits als Zugabe. Gleichzeitig wurde Champagner gereicht, den nun denn doch, die Flasche in eine Serviette gehüllt, der Bediente ausschenkte, und Goethe, der schon den vorigen Weinen ausgiebig zugesprochen, trank rasch hinter einander, wie im Durst, zwei Spitzkelche davon: das geleerte Glas hielt er dem Diener sogleich über die Schulter wieder hin. Nachdem er ein paar Minuten, einer heiteren Erinnerung nachhängend, wie sich dann zeigte, mit seinen nahe beisammen liegenden Augen schräg aufwärts ins Leere geblickt, was von Meyer mit stiller Liebe und auch von den anderen mit lächelnder Erwartung verfolgt wurde, wandte er sich gerade über den Tisch an Bergrat Werner mit der Ankündigung, ihm etwas erzählen zu wollen. »Ach, ich muß Sie was erzählen!« sagte er wörtlich, und dieser Lapsus – oder was es war – wirkte höchst überraschend nach der bedächtig-präzisen Wohlredenheit, an die er das Ohr gewöhnt hatte. Er fügte hinzu, die Mehrzahl der ansässigen Gäste habe die verjährte Begebenheit gewiß in frohem Gedächtnis, dem Aus {418} wärtigen aber sei sie zweifellos unbekannt, und sie sei so artig, daß sich jedermann gern werde daran erinnern lassen.
    Er berichtete nun, von Anfang an mit einem Ausdruck, der sein innerlichstes Vergnügen an dem Gegenstande erkennen ließ, von einer dreizehn Jahre zurückliegenden Ausstellung, die von der Vereinigung Weimarischer Kunstfreunde veranstaltet und auch von auswärts sehr glücklich beschickt gewesen sei. Eins ihrer angenehmsten Objekte sei eine – man müsse schon sagen: äußerst geschickte Copie des Kopfes der Charitas von Leonardo da Vinci gewesen – »Sie wissen: die Charitas auf der Galerie zu Cassel, und Sie kennen den Reproduzenten auch: es war Herr Riepenhausen, ein erfreuliches Talent, das hier ausnehmend zarte und löbliche Arbeit geleistet hatte: der Kopf war in Aquarellfarben wiedergegeben, die den gedämpften Farbenton des Originals festhielten, und das Schmachtende der Augen, die sanfte, gleichsam bittende Neigung des Hauptes, besonders die süße Traurigkeit des Mundes aufs reinste nachgeahmt. Die Erscheinung verbreitete durchaus ein vorzügliches Vergnügen.
    Nun war unsere Ausstellung später im Jahre, als sonst, zustande gekommen, und der Anteil des Publikums daran bewog uns, sie länger als üblich stehen zu lassen. Die Räume wurden kälter, und aus Ökonomie heizte man sie nur gegen die Stunden des eröffneten Einlasses. Eine geringe Abgabe für die einmalige Entree war genehmigt, die namentlich von Fremden erlegt wurde; für Einheimische war ein Abonnement eingerichtet, das nach Belieben auch außer der bestimmten Zeit – also auch zu ungeheizten Stunden – den Eintritt gewährte.
    Nun kommt die Geschichte. Wir werden eines Tages mit Lachen vor das liebe Charitas-Köpfchen gerufen und haben aus eigenem Augenschein ein Phänomen von diskretestem Reiz zu bestätigen: Auf dem Munde des Bildes, will sagen auf dem Glase, dort, wo es den Mund bedeckt, findet sich der unver {419} kennbare Abdruck, das wohlgeformte Faksimile eines von angenehmen Lippen dem schönen Schein applizierten – Kusses.
    Sie denken sich unser Amusement. Sie denken sich auch die heiter-kriminologische Angelegentlichkeit, mit der wir den Fall untersuchten, die Identifikation des Täters unter der Hand betrieben. Er war jung – das hätte man voraussetzen können, aber die auf dem Glas fixierten Züge sprachen es aus. Er mußte allein gewesen sein – vor vielen hätte man dergleichen nicht wagen dürfen. Ein Einheimischer mit Abonnement, der seine sehnsüchtige Tat früh bei ungeheizten Zimmern begangen hatte. Das kalte Glas hatte er angehaucht und seinen Kuß in den eigenen Hauch gedrückt, der alsdann erstarrend sich konsolidierte. Nur wenige wurden mit dieser Angelegenheit bekannt, aber nicht schwer war auszumachen, wer beizeiten in den ungeheizten Zimmern allein sich eingefunden. Die bis zur Gewißheit gesteigerte Vermutung blieb auf einem jungen Menschen ruhen,

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